Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
als hätte er mich noch nie zuvor in seinem Leben gesehen.
Ich kniff die Augen zusammen, konnte noch immer nicht glauben, dass ich es war, die soeben geschrien hatte.
»Kriech unter den Tisch! Sofort!«, rief mir mein Gehirn zu, doch meine Füße waren wie mit dem Boden verwachsen.
Erst als Jimmu auf mich zukam, schien Ryu sich von dem Schock zu erholen. Er stellte sich schützend vor mich und wandte sich dem Ehrenpodest zu.
»Darf ich nähertreten, mein König? Meine Königin?«, fragte er mit klarer, fester Stimme. Als Orin und Morrigan langsam und synchron nickten, hielt Jimmu inne.
»Bitte vergebt den Ausbruch meiner Begleiterin«, sagte Ryu und trat in die Mitte des Gangs. Doch er hielt gebührlichen Abstand zu den neun Nagas. »Sie wollte damit nicht
sagen, dass unsere hochgeschätzten Kameraden lügen. Vielmehr brachte sie die von uns allen gehegte Befürchtung zum Ausdruck, dass ein tieferes Geheimnis hinter all diesen Morden steckt.«
Ein Raunen ging durch den Saal, als sich allgemeines Geflüster erhob. Wahrscheinlich gaben sie Wetten ab, wie lange Ryu und ich noch leben würden, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die Wetten nicht zu unseren Gunsten ausfielen.
»Immerhin stellt sich doch die Frage«, fuhr Ryu gewandt und einschmeichelnd fort, »wie ein einfacher Mensch es mit zwei ausgewachsenen Kobolden aufnehmen konnte.« Er legte eine Kunstpause ein, und ich sah, dass einige der Anwesenden nickten. Er spielte mit seinen Zuhörern geschickt wie auf einem Instrument.
»Nicht, dass ich an dem Wort der Nagas zweifeln würde«, sagte er in feierlichem Ton. »Ich weiß, wie ergeben Jimmu und seine Geschwister ihrem Herrn gegenüber sind, aber vielleicht - ganz vielleicht - spielte dieser Mensch hier bei all den Morden nur eine Nebenrolle.«
Mir gefiel Ryus spöttischer Seitenhieb auf Jarl, aber dass er Jimmus Mord an einem Unschuldigen rechtfertigte, fand ganz und gar nicht meine Zustimmung. In der Zwischenzeit hatte ich bemerkt, dass die Nagas etwas angespannt wirkten. Sie hatten ihre Haltung verändert und waren nun etwas mehr auf der Hut. Ihre Schlangenzungen flatterten nervös in der Luft, als versuchten sie, die Geschehnisse vorauszuahnen.
Orin und Morrigan sahen sich in die Augen. Ich hatte das Gefühl, dass sie schweigend miteinander kommunizierten.
Jarl ergriff die Gelegenheit, sich einzumischen, und ich bemerkte einen Hauch von Panik in seiner Stimme, als er versuchte, die Kontrolle über die Situation zurückzuerlangen.
»Was hat diese Störung zu bedeuten, Ryu Baobhan Sith?«, warf er ein. »Deine Worte sind eine klare Provokation gegen meine Ziehkinder, die unserer Gemeinschaft schon so lange loyal dienen. Du sagst zwar, du möchtest niemanden beleidigen, doch tatsächlich behauptest du, sie seien Verräter. Ich schätze weder das, was du sagst, noch das, was du damit unausgesprochen unterstellst.«
Ryus haselnussbraune Augen weiteten sich betroffen und brachten seine - absolut vorgetäuschte - Fassungslosigkeit über Jarls Worte zum Ausdruck.
»Durchlaucht«, sagte Ryu scheinbar gekränkt. »Es tut mir sehr leid, wenn ich den Eindruck erweckt haben sollte, dass ich Zweifel an der Loyalität der Nagas hege. Ich bin absolut davon überzeugt, dass sie ihre Pflichten treu erfüllen. Zweifellos war dieser Mensch irgendwie in die Morde verstrickt.« Ich atmete tief durch und zählte bis zehn. Ryu musste tun, was er tun musste.
»Ich spreche einfach nur die Meinung aus, die viele von uns seit Bekanntwerden dieser schrecklichen Taten zum Ausdruck gebracht haben - dass ein Mensch nicht allein für diese Morde verantwortlich sein kann.« Nun nickten noch mehr Köpfe zustimmend, und das Gemurmel wurde lauter, aber Ryu fuhr mit erhobener Stimme fort, um den Tumult zu übertönen.
»Aber natürlich gibt es einen ganz einfachen Weg, diese Theorie zu beweisen.« Bei diesen Worten verstummte der ganze Saal.
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein Anflug von Besorgnis über Jarls Gesicht, obwohl die Nagas so gleichgültig blieben wie Statuen.
Morrigan hob anmutig die Augenbrauen. »Fahr fort, Ermittler«, befahl sie.
Ryu verriet nicht den Hauch von Triumph, aber mittlerweile kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, was er fühlte. Die Position seiner Schultern, das leicht erhobene Kinn - alles an seiner Haltung rief: »Schach und matt!«
»Meine Königin«, er verneigte sich vor ihr. »Wohl wissend, dass Jarl seine vertrauenswürdigsten Diener mit der Aufgabe betraut hat, den Mörder
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