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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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als es in ihm wieder sicher und ruhig war, sah er, wie ihm eine Frau nachblickte, in deren Blick die Frage lag, ob er nicht vielleicht Hilfe brauche.
    Die Uhr an der Heiliggeistkirche zeigte kurz vor acht, der Verkehr wurde ruhiger. Die Wolkendecke hatte sich geteilt, man konnte die Sterne sehen. Es war kalt. Gregorius ging über die Kleine Schanze und weiter zur Bundesterrasse. Aufgeregt sah er dem Moment entgegen, wo er auf die Kirchenfeldbrücke würde einbiegen können, wie er es jahrzehntelang um Viertel vor acht morgens getan hatte.
    Die Brücke war gesperrt. Die Nacht über, bis morgen früh, wurden Tramgeleise repariert. »Ein schlimmer Unfall«, sagte jemand, als er sah, wie Gregorius fassungslos auf das Schild starrte.
    Mit dem Gefühl, daß ihm etwas zur Gewohnheit wurde, das ihm fremd war, betrat er das Hotel Bellevue und ging ins Restaurant. Die gedämpfte Musik, die hellbeige Jacke des Kellners, das Silber. Er bestellte etwas zu essen. Der Balsam der Enttäuschung. »Er hat sich oft lustig darüber gemacht«, hatte João Eça über Prado gesagt, »daß wir, die Menschen, die Welt für eine Bühne halten, auf der es um uns und unsere Wünsche geht. Er hielt diese Täuschung für den Ursprung aller Religion. ›Dabei ist keine Spur davon wahr‹, pflegte er zu sagen, ›das Universum ist einfach da, und es ist ihm vollkommen gleichgültig, wirklich vollkommen gleichgültig, was mit uns geschieht.‹«
    Gregorius holte Prados Buch hervor und suchte nach einer Überschrift mit cena . Als das Essen kam, hatte er gefunden, was er suchte:
     
    CENA CARICATA. LÄCHERLICHE BÜHNE . Die Welt als Bühne, die darauf wartet, daß wir das wichtige und traurige, das komische und bedeutungslose Drama unserer Vorstellungen inszenieren. Wie rührend und charmant sie ist, diese Idee! Und wie unvermeidlich!
     
    Langsam ging Gregorius ins Monbijou und von dort über die Brücke zum Gymnasium. Es war viele Jahre her, daß er das Gebäude aus dieser Richtung gesehen hatte, und es kam ihm sonderbar fremd vor. Er hatte es stets durch den Hintereingang betreten, jetzt hatte er den Haupteingang vor sich. Alles war dunkel. Von einem Kirchturm schlug es halb zehn.
    Der Mann, der jetzt das Fahrrad abstellte, zum Eingang ging, aufschloß und drinnen verschwand, war Burri, der Major. Er kam manchmal abends, um einen physikalischen oder chemischen Versuch für den nächsten Tag vorzubereiten. Hinten im Labor ging das Licht an.
    Lautlos schlüpfte Gregorius ins Gebäude. Er hatte keine Ahnung, was er hier wollte. Auf Zehenspitzen schlich er in den ersten Stock. Die Türen zu den Klassenzimmern waren verschlossen, und auch die hohe Tür zur Aula ließ sich nicht öffnen. Er fühlte sich ausgeschlossen, auch wenn das natürlich nicht den geringsten Sinn ergab. Leise quietschten seine Gummisohlen auf dem Linoleum. Der Mond schien durchs Fenster. In seinem blassen Licht betrachtete er alles, wie er es noch nie betrachtet hatte, als Lehrer nicht und auch nicht als Schüler. Die Türgriffe, das Treppengeländer, die Schränke für die Schüler. Sie warfen ihm die tausendfachen Blicke von früher zurück und traten dahinter als Gegenstände hervor, die er noch nie gesehen hatte. Er legte die Hand auf die Klinken, spürte ihren kühlen Widerstand und glitt weiter durch die Korridore als ein großer, träger Schatten. Im Parterre, am anderen Ende des Gebäudes, ließ Burri etwas fallen, das Geräusch von zerbrechendem Glas hallte durch den Flur.
    Eine der Türen gab nach. Gregorius stand im Zimmer, in dem er als Schüler die ersten griechischen Wörter auf der Wandtafel gesehen hatte. Das war dreiundvierzig Jahre her. Er hatte immer hinten links gesessen, und auch jetzt setzte er sich auf diesen Platz. Damals trug Eva, die Unglaubliche, die zwei Reihen vor ihm saß, das rote Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, und er konnte stundenlang zusehen, wie der Schwanz von Schulter zu Schulter über Bluse und Pullover wischte. Beat Zurbriggen, der all die Jahre neben ihm gesessen hatte, war im Unterricht oft eingeschlafen, er wurde deswegen gehänselt. Später entdeckte man, daß es mit einer Stoffwechselstörung zu tun hatte, an der er in jungen Jahren starb.
    Als Gregorius das Zimmer verließ, wußte er, warum es so seltsam war, hier zu sein: Er lief in den Korridoren und in sich selbst herum als der ehemalige Schüler und vergaß dabei, daß er jahrzehntelang als Lehrer durch die Flure gegangen war. Konnte man als der Frühere den Späteren

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