Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Momente, da sieht meine Frau aus, als zerfalle sie. Da kam Ihre Erinnerung an den weisen Kaiser gerade recht. Und lassen Sie mich etwas hinzufügen, was Sie hoffentlich nicht als aufdringlich empfinden werden: Immer wenn ich das Kuvert mit Ihrem Brief sehe, das von meinem Schreibtisch nicht verschwinden will, empfinde ich einen Stich des Neids. Einfach aufstehen und gehen: Welch eine Courage! »Er ist einfach aufgestanden und gegangen«, sagen die Schüler immer wieder. »Einfach aufgestanden und gegangen!«
Ihre Stelle bleibt bis auf weiteres frei, das sollen Sie wissen. Einen Teil des Unterrichts habe ich selbst übernommen, für den Rest haben wir Studenten als Vertreter gefunden, auch fürs Hebräische. Was das Finanzielle angeht, so bekommen Sie die nötigen Unterlagen von der Schuldirektion zugesandt.
Was soll ich zum Schluß sagen, lieber Gregorius? Am besten einfach dieses: Wir wünschen Ihnen alle, daß Ihre Reise Sie auch wirklich dahin bringt, wo Sie hinwollten, im Äußeren wie im Inneren.
Ihr Werner Kägi
P.S. Ihre Bücher sind bei mir im Schrank. Es kann ihnen nichts geschehen. Was das Praktische betrifft, so habe ich noch eine Bitte: Würden Sie mir irgendwann – es eilt nicht – Ihre Schlüssel zukommen lassen?
Handschriftlich hatte Kägi hinzugefügt: Oder möchten Sie sie behalten? Für alle Fälle?
Gregorius blieb lange sitzen. Draußen wurde es dunkel. Das hätte er nicht gedacht, daß Kägi ihm einen solchen Brief schreiben würde. Vor langer Zeit hatte er ihn einmal mit den beiden Kindern in der Stadt gesehen, sie hatten gelacht, es schien alles in Ordnung zu sein. Was Virginie Ledoyen über seine Kleidung gesagt hatte, gefiel ihm, und er war fast ein bißchen unglücklich, als er auf die Hose seines neuen Anzugs hinuntersah, den er auf der Reise getragen hatte. Unverblümt , ja. Aber ungehobelt ? Und welches waren, außer Natalie Rubin und vielleicht ein bißchen Ruth Gautschi, die Schülerinnen, die ihn vermißten?
Er war zurückgekehrt, weil er wieder an dem Ort hatte sein wollen, wo er sich auskannte. Wo er nicht Portugiesisch sprechen mußte oder Französisch oder Englisch. Warum ließ Kägis Brief dieses Vorhaben, das einfachste aller Vorhaben, auf einmal schwierig erscheinen? Warum war es ihm jetzt noch wichtiger als vorhin im Zug, daß es Nacht war, wenn er zum Bubenbergplatz hinunterging?
Als er eine Stunde später auf dem Platz stand, hatte er das Gefühl, ihn nicht mehr berühren zu können. Ja, das war, obgleich es sonderbar klang, das treffende Wort: Er konnte den Bubenbergplatz nicht mehr berühren . Er war schon dreimal um den Platz herumgegangen, hatte vor den Ampeln gewartet und in alle Richtungen geblickt: zum Kino, zur Post, zum Denkmal, zur spanischen Buchhandlung, wo er auf Prados Buch gestoßen war, nach vorne zur Tramhaltestelle, zur Heiliggeistkirche und zum Kaufhaus LOEB . Er hatte sich abseits gestellt, die Augen geschlossen und sich auf den Druck konzentriert, den sein schwerer Körper aufs Pflaster ausübte. Die Fußsohlen waren warm geworden, die Straße schien ihm entgegenzukommen, aber es war so geblieben: Es gelang ihm nicht mehr, den Platz zu berühren. Nicht nur die Straße, der ganze Platz mit seiner in Jahrzehnten gewachsenen Vertrautheit war ihm entgegengewachsen, aber es war den Straßen und Gebäuden, den Lichtern und Geräuschen nicht mehr gelungen, ihn ganz zu erreichen, den letzten, hauchdünnen Hiat zu überwinden, um ganz bei ihm anzukommen und sich als etwas in Erinnerung zu bringen, das er nicht nur kannte , ausgezeichnet kannte, sondern als etwas, das er war , so, wie er es früher immer gewesen war auf eine Weise, die ihm erst jetzt, im Mißlingen, zu Bewußtsein kam.
Der hartnäckige, unerklärliche Hiat schützte ihn nicht, er war nicht wie ein Puffer, der Abstand und Gelassenheit hätte bedeuten können. Vielmehr ließ er in Gregorius Panik entstehen, die Angst, mit den vertrauten Dingen, die er hatte anrufen wollen, um sich wiederzufinden, auch sich selbst zu verlieren und hier dasselbe zu erleben wie im morgendämmrigen Lissabon, nur tückischer und viel, viel gefährlicher, denn während es hinter Lissabon Bern gegeben hatte, gab es hinter dem verlorenen Bern kein anderes Bern mehr. Als er, den Blick auf den festen und doch zurückweichenden Boden gerichtet, in einen Passanten hineinlief, erfaßte ihn nachher Schwindel, einen Moment lang drehte sich alles, er faßte mit beiden Händen an den Kopf, wie um ihn festzuhalten, und
Weitere Kostenlose Bücher