Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Wachheit. So daß diese sonderbare, gläserne Wachheit, die ihm neu war und sich auch von der Wachheit unterschied, die ihn auf der Fahrt nach Paris als etwas Neues ausgefüllt hatte, in gewissem Sinne nichts anderes gewesen war als jener Gedanke. Er war nicht sicher, daß er wußte, was er mit ihm und in ihm dachte, doch der Gedanke hatte bei aller Unklarheit eine gebieterische Bestimmtheit besessen. Panik hatte ihn erfaßt, und er hatte mit zittrigen Händen zu packen begonnen, Bücher und Kleidung wild durcheinander. Als der Koffer fertig war, zwang er sich zur Ruhe und stand für eine Weile am Fenster.
Es würde ein strahlender Tag werden. Im Salon von Adrianas Haus würde die Sonne das Parkett zum Leuchten bringen. Im Morgenlicht würde Prados Schreibpult noch verlassener aussehen als sonst. An der Wand über dem Pult hingen Notizzettel mit ausgeblichenen, kaum noch lesbaren Wörtern, von denen man aus der Distanz nur durch wenige Punkte wußte, an denen die Feder kräftiger aufgesetzt worden war. Er hätte gerne gewußt, woran die Wörter den Arzt hatten erinnern sollen.
Morgen oder übermorgen, vielleicht heute schon, würde Clotilde mit einer neuen Einladung von Adriana ins Hotel kommen. João Eça baute darauf, daß er am Sonntag zum Schach kam. O’Kelly und Mélodie würden sich wundern, daß sie nie mehr etwas von ihm hörten, von dem Mann, der aus dem Nichts aufgetaucht war und nach Amadeu gefragt hatte, als hinge seine Seligkeit davon ab zu verstehen, wer er gewesen war. Pater Bartolomeu würde es seltsam finden, daß er ihm die Abschrift von Prados Abschlußrede mit der Post zuschickte. Auch Mariana Eça würde nicht verstehen, warum er wie vom Erdboden verschwunden blieb. Und Silveira. Und Coutinho.
Sie hoffe, es sei nichts Schlimmes, was ihn so plötzlich abreisen lasse, sagte die Frau am Empfang, als er die Rechnung beglich. Von dem Portugiesisch des Taxifahrers verstand er kein Wort. Als er am Flughafen zahlte, fand er in der Manteltasche den Zettel, auf dem ihm Julio Simões, der Antiquar, die Adresse einer Sprachschule aufgeschrieben hatte. Er betrachtete ihn eine Weile und warf ihn dann in den Papierkorb vor der Tür zur Abflughalle. Die Maschine um zehn sei halb leer, sagten sie ihm am Schalter und gaben ihm einen Fensterplatz.
Im Warteraum am Flugsteig hörte er nur Portugiesisch. Einmal hörte er auch das Wort português . Jetzt war es ein Wort, das ihm angst machte, ohne daß er hätte sagen können, wovor. Er wollte in seinem Bett in der Länggasse schlafen, er wollte über die Bundesterrasse gehen und über die Kirchenfeldbrücke, er wollte über den ablativus absolutus sprechen und über die Ilias, er wollte am Bubenbergplatz stehen, wo er sich auskannte. Er wollte nach Hause.
Beim Anflug auf Kloten wachte er von der portugiesischen Frage einer Stewardeß auf. Es war eine längere Frage, er verstand sie mühelos und antwortete auf portugiesisch. Er sah auf den Zürichsee hinunter. Weite Teile der Landschaft lagen unter schmutzig gewordenem Schnee. Auf die Tragflächen prasselte der Regen.
Es war ja nicht Zürich, wo er hinwollte, es war Bern, dachte er. Er war froh, daß er Prados Buch bei sich hatte. Als die Maschine aufsetzte und alle anderen ihre Bücher und Zeitungen weglegten, holte er es hervor und begann zu lesen.
JUVENTUDE IMORTAL. UNSTERBLICHE JUGEND . In der Jugend leben wir, als seien wir unsterblich. Das Wissen von der Sterblichkeit umspielt uns wie ein sprödes Band aus Papier, das kaum unsere Haut berührt. Wann im Leben ändert sich das? Wann beginnt das Band, uns enger zu umschlingen, bis es uns am Ende würgt? Woran erkennt man seinen sanften, doch unnachgiebigen Druck, der uns wissen läßt, daß er nie mehr nachlassen wird? Woran erkennt man ihn bei den anderen? Und woran bei sich selbst?
Gregorius wünschte, das Flugzeug wäre ein Bus, in dem man an der Endstation einfach sitzen bleiben, weiterlesen und dann zurückfahren konnte. Er war der letzte, der ausstieg.
Am Fahrkartenschalter zögerte er, so daß die Frau ungeduldig am Armband drehte.
»Zweiter Klasse«, sagte er schließlich.
Als der Zug den Zürcher Hauptbahnhof verließ und volle Fahrt aufnahm, fiel ihm ein, daß Natalie Rubin heute in den Bibliotheken nach einem Buch über den portugiesischen Widerstand suchte und daß die anderen Bücher nach Lissabon unterwegs waren. Mitte der Woche, wenn er längst wieder in der Länggasse wohnte, würde sie, nur wenige Häuser weiter, zur Buchhandlung
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