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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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vergessen, obgleich der Spätere die Bühne war, auf der man die Dramen des Früheren aufführte? Und wenn es kein Vergessen war, was war es dann?
    Unten lief Burri fluchend durch den Gang. Die Tür, die er zuknallte, mußte die Tür zum Lehrerzimmer sein. Jetzt hörte Gregorius, wie auch die Eingangstür ins Schloß fiel. Der Schlüssel drehte sich. Er war eingeschlossen.
    Es war, als wachte er auf. Doch es war kein Aufwachen in den Lehrer hinein, keine Rückkehr zu Mundus, der sein Leben in diesem Gebäude verbracht hatte. Die Wachheit war diejenige des heimlichen Besuchers, dem es früher am Abend nicht mehr gelungen war, den Bubenbergplatz zu berühren. Gregorius ging hinunter ins Lehrerzimmer, das Burri in seinem Ärger vergessen hatte abzuschließen. Er betrachtete den Sessel, in dem Virginie Ledoyen stets saß. Ich muß sagen, ich muß es sagen: Irgendwie vermisse ich ihn.
    Eine Weile stand er am Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Er sah O’Kellys Apotheke vor sich. Auf dem Glas der grüngoldenen Tür stand IRISH GATE . Er ging zum Telefon, rief die Auskunft an und ließ sich mit der Apotheke verbinden. Es war ihm danach, es in der leeren, hell erleuchteten Apotheke die ganze Nacht über klingeln zu lassen, bis Jorge seinen Rausch ausgeschlafen hatte, die Apotheke betrat und hinter der Theke die erste Zigarette anzündete. Doch nach einer Weile kam das Besetzzeichen, und Gregorius legte auf. Als er die Auskunft von neuem anrief, verlangte er die schweizerische Botschaft in Isfahan. Eine fremdländische, heisere Männerstimme meldete sich. Gregorius tat den Hörer zurück auf die Gabel. Hans Gmür , dachte er, Hans Gmür .
    Neben dem Hinterausgang stieg er durchs Fenster und ließ sich das letzte Stück fallen. Als ihm schwarz vor den Augen wurde, hielt er sich am Fahrradständer fest. Dann ging er hinüber zur Baracke und trat von außen zu dem Fenster, durch das er seinerzeit während des Griechischunterrichts ausgestiegen war. Er sah, wie die Unglaubliche sich zu ihrer Nachbarin umdrehte, um sie auf den unglaublichen Vorgang seines Ausstiegs aufmerksam zu machen. Ihr Atem bewegte das Haar der Nachbarin. Die Sommersprossen schienen ihr Erstaunen noch größer werden zu lassen, und die Augen mit dem Silberblick schienen sich zu weiten. Gregorius wandte sich ab und ging in Richtung Kirchenfeldbrücke.
    Er hatte vergessen, daß die Brücke gesperrt war. Verärgert nahm er den Weg übers Monbijou. Als er am Bärenplatz ankam, schlug es Mitternacht. Morgen früh war Markt, Markt mit Marktfrauen und Kassen mit Geld. Die Bücher habe ich gestohlen. Bücher dürften nichts kosten, das dachte ich damals und denke es heute noch , hörte er O’Kelly sagen. Er ging weiter in Richtung Gerechtigkeitsgasse.
    In der Wohnung von Florence war kein Licht. Vor ein Uhr ging sie nie ins Bett. War sie nie ins Bett gegangen. Gregorius wechselte auf die andere Seite der Gasse und wartete hinter einer Säule. Das letztemal hatte er das vor mehr als zehn Jahren getan. Sie war allein nach Hause gekommen, und ihr Schritt war müde gewesen, ohne Schwung. Als er sie jetzt kommen sah, war sie in Begleitung eines Mannes. Du könntest dir ruhig mal was Neues zum Anziehen kaufen. Schließlich lebst du nicht allein. Und dafür reicht Griechisch nicht. Gregorius sah an seinem neuen Anzug herunter: Er war besser angezogen als der andere Mann. Als Florence einen Schritt zur Gasse hin machte und das Licht einer Laterne auf ihr Haar fiel, erschrak er: Sie war in den zehn Jahren grau geworden. Und sie war mit Mitte vierzig angezogen, als sei sie mindestens fünfzig. Gregorius spürte Ärger in sich aufsteigen: War sie nie mehr in Paris? Hatte der schlampig angezogene Typ neben ihr, der aussah wie ein verwahrloster Steuerbeamter, ihren Sinn für Eleganz abgetötet? Als Florence nachher oben das Fenster öffnete und sich hinauslehnte, war er versucht, hinter der Säule hervorzutreten und ihr zuzuwinken.
    Später ging er hinüber zu den Klingeln. Florence de l’Arronge hatte sie als Mädchen geheißen. Wenn er die Anordnung der Klingeln richtig deutete, hieß sie heute Meier. Nicht einmal zu einem y hatte es gereicht. Wie elegant hatte die Doktorandin von einst ausgesehen, als sie im coupole saß! Und wie bieder und erloschen hatte die Frau von eben gewirkt! Auf dem Weg hinauf zum Bahnhof und weiter in die Länggasse verstrickte er sich immer weiter in eine Wut, die er mit jedem Schritt noch weniger verstand. Sie ließ erst nach, als er vor dem

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