Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
wie sie unter Taxifahrern in Thessaloniki wohl üblich war.
Er holte Prados Buch hervor. Während er, wie vor zwei Wochen, bei heruntergezogener Jalousie am Küchentisch saß und las, hatte er das Gefühl, daß ihm die Sätze, die der adlige Portugiese im Dachzimmer des blauen Hauses aufgeschrieben hatte, halfen, am richtigen Ort zu sein: weder in Bern noch in Lissabon.
AMPLID Ã O INTERIOR. INNERE WEITE . Wir leben hier und jetzt, alles, was vorher war und an anderen Orten, ist Vergangenheit, zum größten Teil vergessen und als kleiner Rest noch zugänglich in ungeordneten Splittern der Erinnerung, die in rhapsodischer Zufälligkeit aufleuchten und wieder verlöschen. So sind wir gewohnt, über uns zu denken. Und es ist dieses die natürliche Denkungsart, wenn es die anderen sind, auf die wir den Blick richten: Sie stehen ja wirklich hier und jetzt vor uns, nirgendwo und nirgendwann sonst, und wie sollte man sich ihre Beziehung zur Vergangenheit denken, wenn nicht in der Gestalt von inneren Episoden des Erinnerns, deren ausschließliche Wirklichkeit in der Gegenwart ihres Geschehens liegt?
Doch aus der Sicht des eigenen Inneren verhält es sich ganz anders. Da sind wir nicht auf unsere Gegenwart beschränkt, sondern weit in die Vergangenheit hinein ausgebreitet. Das kommt durch unsere Gefühle, namentlich die tiefen, also diejenigen, die darüber bestimmen, wer wir sind und wie es ist, wir zu sein. Denn diese Gefühle kennen keine Zeit, sie kennen sie nicht, und sie anerkennen sie nicht. Es wäre natürlich falsch, wenn ich sagte: Ich bin immer noch der Junge auf den Stufen vor der Schule, der Junge mit der Mütze in der Hand, dessen Blick hinüberwandert zu der Mädchenschule, in der Hoffnung, Maria João zu sehen. Natürlich ist es falsch, inzwischen sind mehr als dreißig Jahre verflossen. Und doch ist es auch wahr. Das Herzklopfen vor schwierigen Aufgaben ist das Herzklopfen, wenn Senhor Lanções, der Mathematiklehrer, das Klassenzimmer betrat; in der Beklommenheit allen Autoritäten gegenüber schwingen die Machtworte meines gebeugten Vaters mit; und trifft mich der leuchtende Blick einer Frau, so stockt mir der Atem wie jedesmal, wenn sich, von Schulfenster zu Schulfenster, mein Blick mit demjenigen von Maria João zu kreuzen schien. Ich bin immer noch dort, an jenem entfernten Ort in der Zeit, ich bin dort nie weggegangen, sondern lebe ausgebreitet in die Vergangenheit hinein, oder aus ihr heraus. Sie ist Gegenwart, diese Vergangenheit, und nicht bloß in Form kurzer Episoden des aufblitzenden Erinnerns. Die tausend Veränderungen, welche die Zeit vorangetrieben haben – sie sind, gemessen an dieser zeitlosen Gegenwart des Fühlens, flüchtig und unwirklich wie ein Traum, und auch trügerisch wie Traumbilder: Sie spiegeln mir vor, ich sei einer, der als Arzt, zu dem die Leute mit ihren Schmerzen und Sorgen kommen, eine märchenhafte Selbstgewißheit und Furchtlosigkeit besitzt. Und das bange Vertrauen in den Blicken der Hilfesuchenden zwingt mich, daran zu glauben, solange sie vor mir stehen. Doch kaum sind sie gegangen, möchte ich ihnen zurufen: Ich bin doch immer noch jener ängstliche Junge auf den Schulstufen, es ist völlig unerheblich, ja eigentlich eine Lüge, daß ich im weißen Kittel hinter dem gewaltigen Schreibtisch sitze und Ratschläge erteile, laßt euch nicht täuschen von dem, was wir in lächerlicher Oberflächlichkeit die Gegenwart nennen.
Und nicht nur in der Zeit sind wir ausgebreitet. Auch im Raum erstrecken wir uns weit über das hinaus, was sichtbar ist. Wir lassen etwas von uns zurück, wenn wir einen Ort verlassen, wir bleiben dort, obgleich wir wegfahren. Und es gibt Dinge an uns, die wir nur dadurch wiederfinden können, daß wir dorthin zurückkehren. Wir fahren an uns heran, reisen zu uns selbst, wenn uns das monotone Klopfen der Räder einem Ort entgegenträgt, wo wir eine Wegstrecke unseres Lebens zurückgelegt haben, wie kurz sie auch gewesen sein mag. Wenn wir den Fuß zum zweiten Male auf den Bahnsteig des fremden Bahnhofs setzen, die Stimmen aus den Lautsprechern hören, die unverwechselbaren Gerüche riechen, so sind wir nicht nur an dem fernen Ort angekommen, sondern auch in der Ferne des eigenen Inneren, in einem vielleicht ganz entlegenen Winkel unserer selbst, der, wenn wir anderswo sind, ganz im Dunkeln liegt und in der Unsichtbarkeit. Warum sonst sollten wir so aufgeregt sein, so außer uns selbst, wenn der Schaffner den Namen des Orts ausruft, wenn wir
Weitere Kostenlose Bücher