Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Haupt gehen und dann die persische Grammatik zur Post bringen. Was konnte er ihr sagen, wenn er ihr begegnen sollte? Was konnte er den anderen sagen? Kägi und den übrigen Kollegen? Den Schülern? Doxiades wäre am einfachsten, und trotzdem: Was wären die richtigen Worte, die Worte, die es trafen? Als das Berner Münster in Sicht kam, hatte er das Gefühl, in wenigen Minuten eine verbotene Stadt zu betreten.
In der Wohnung war es eisig. Gregorius zog in der Küche die Jalousie hoch, die er vor zwei Wochen heruntergezogen hatte, um sich zu verstecken. Die Platte des Sprachkurses lag noch auf dem Plattenteller, die Hülle auf dem Tisch. Der Telefonhörer lag verkehrt herum auf der Gabel und erinnerte ihn an das nächtliche Gespräch mit Doxiades. Warum machen mich Spuren des Vergangenen traurig, auch wenn es Spuren von etwas Heiterem sind? , hatte sich Prado in einer seiner lakonischen Aufzeichnungen gefragt.
Gregorius packte den Koffer aus und legte die Bücher auf den Tisch. O GRANDE TERRAMOTO. A MORTE NEGRA . Er drehte in allen Räumen die Heizung auf, stellte die Waschmaschine an und begann dann, über die portugiesische Pestepidemie im 14. und 15. Jahrhundert zu lesen. Es war kein schwieriges Portugiesisch, und er kam gut voran. Nach einer Weile zündete er die letzte Zigarette aus der Schachtel an, die er im Café in der Nähe von Mélodies Haus gekauft hatte. In den fünfzehn Jahren, in denen er hier wohnte, war es das erste Mal, daß Zigarettenrauch in der Luft hing. Ab und zu, wenn ein Abschnitt im Buch zu Ende war, dachte er an seinen ersten Besuch bei João Eça, und dann war ihm, als spürte er den brennenden Tee in der Kehle, den er in sich hineingegossen hatte, um es Eças zitternden Händen leichter zu machen.
Als er zum Schrank ging, um einen dickeren Pullover zu holen, kam ihm der Pullover in den Sinn, in den er im verlassenen Liceu die hebräische Bibel eingewickelt hatte. Es war gut gewesen, im Zimmer von Senhor Cortês zu sitzen und im Buch Hiob zu lesen, während der Kegel aus Sonnenlicht durch den Raum wanderte. Gregorius dachte an Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama. Er sah das Bahnhofsschild von Salamanca vor sich und spürte, wie er als Vorbereitung auf Isfahan die ersten persischen Wörter auf die Wandtafel in seiner Kammer schrieb, wenige hundert Meter von hier. Er holte ein Blatt Papier und machte sich auf die Suche nach dem Gedächtnis seiner Hand. Es kamen ein paar Striche und Schleifen, einige Pünktchen für die Vokale. Dann riß es ab.
Er fuhr zusammen, als es an der Tür klingelte. Es war Frau Loosli, seine Nachbarin. Sie habe an der veränderten Lage des Türvorlegers gesehen, daß er wieder da sei, sagte sie und gab ihm die Post und den Briefkastenschlüssel. Ob er einen guten Urlaub gehabt habe? Und ob es jetzt immer so früh im Jahr Schulferien gebe?
Das einzige, was Gregorius in der Post interessierte, war ein Brief von Kägi. Gegen seine Gewohnheit nahm er nicht den Öffner, sondern riß den Brief hastig auf.
Lieber Gregorius,
ich möchte den Brief, den Sie mir geschrieben haben, nicht stumm verhallen lassen. Dazu hat er mich zu sehr berührt. Und ich nehme an, daß Sie sich, wohin die weite Reise Sie auch führen mag, die Post irgendwann nachschicken lassen.
Das Wichtigste, das ich Ihnen sagen möchte, ist dieses: Es ist in unserem Gymnasium merkwürdig leer ohne Sie. Wie groß die Leere ist, mag Ihnen die Tatsache zeigen, daß Virginie Ledoyen heute im Lehrerzimmer ganz plötzlich sagte: »Ich habe ihn für seine unverblümte, ungehobelte Art manchmal gehaßt; und es hätte wirklich nicht geschadet, wenn er sich manchmal ein bißchen besser angezogen hätte. Immer dieses abgetragene, ausgebeulte Zeug. Aber ich muß sagen, ich muß es sagen: Irgendwie vermisse ich ihn. Étonnant .« Und was die verehrte französische Kollegin sagt, ist nichts im Vergleich zu dem, was wir von den Schülern hören. Und, wie ich hinzufügen darf, von einigen Schülerinnen. Wenn ich jetzt vor Ihren Klassen stehe, spüre ich Ihre Abwesenheit wie einen großen, dunklen Schatten. Und was wird denn jetzt aus dem Schachturnier?
Marc Aurel: in der Tat. Wir, meine Frau und ich, haben, wenn ich Ihnen das anvertrauen darf, in der letzten Zeit immer mehr das Gefühl, unsere beiden Kinder zu verlieren. Es ist kein Verlust durch Krankheit oder Unfall, es ist schlimmer: Sie lehnen unsere ganze Art zu leben ab und sind nicht eben zimperlich in ihrer Ausdrucksweise. Es gibt
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