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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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schäbigen Haus stand, in dem er aufgewachsen war.
    Die Haustür war verschlossen, doch in dem Einsatz aus blind gewordenem Glas fehlte ein Stück. Gregorius hielt die Nase an die Öffnung: Es roch auch heute noch nach Kohl. Er suchte das Fenster der Kammer, in der er die persischen Wörter auf die Wandtafel geschrieben hatte. Es war vergrößert worden und hatte einen anderen Rahmen bekommen. Es hatte ihn zum Kochen bringen können, wenn die Mutter gebieterisch zum Essen rief, während er aufgeregt in der persischen Grammatik las. Er sah die Heimatromane von Ludwig Ganghofer auf ihrem Nachttisch liegen. Kitsch ist das tückischste aller Gefängnisse , hatte Prado notiert. Die Gitterstäbe sind mit dem Gold vereinfachter, unwirklicher Gefühle verkleidet, so daß man sie für die Säulen eines Palastes hält.
    In dieser Nacht schlief Gregorius wenig, und wenn er aufwachte, wußte er im ersten Moment nicht, wo er war. Er rüttelte an lauter Türen des Gymnasiums und kletterte durch lauter Fenster. Als die Stadt gegen Morgen erwachte und er am Fenster stand, war er sich nicht mehr ganz sicher, ob er wirklich im Kirchenfeld gewesen war.
    In der Redaktion der großen Berner Zeitung war man nicht gerade freundlich zu ihm, und Gregorius vermißte Agostinha vom DIARIO DE NOT Í CIAS in Lissabon. Ein Inserat vom April 1966? Widerwillig ließen sie ihn im Archiv allein, und gegen Mittag hatte er den Namen des Industriellen, der damals für seine Kinder einen Hauslehrer gesucht hatte. Im Telefonbuch gab es drei Hannes Schnyder, aber nur einen Dipl. Ing. Eine Adresse in der Elfenau.
    Gregorius fuhr hin und klingelte im Gefühl, etwas vollkommen Abwegiges zu tun. Das Ehepaar Schnyder in der makellosen Villa empfand es allem Anschein nach als willkommene Abwechslung, mit dem Mann Tee zu trinken, der damals fast der Lehrer ihrer Kinder geworden wäre. Die beiden gingen auf die achtzig zu und sprachen von den wunderbaren Zeiten unter dem Schah, in denen sie reich geworden waren. Warum er denn damals seine Bewerbung zurückgezogen habe? Ein Junge mit altsprachlicher Maturität – das wäre genau das gewesen, was sie gesucht hätten. Gregorius sprach von der Krankheit der Mutter und lenkte das Gespräch dann für eine Weile in eine andere Richtung.
    Wie es in Isfahan mit dem Klima sei, fragte er schließlich. Hitze? Sandstürme? Nichts, vor dem man sich zu fürchten brauche, lachten sie, jedenfalls nicht, wenn man so wohne, wie sie damals gewohnt hätten. Und dann holten sie Fotos. Gregorius blieb bis in den Abend hinein, und die Schnyders waren erstaunt und beglückt über sein Interesse an ihren Erinnerungen. Sie schenkten ihm einen Bildband von Isfahan.
    Bevor er ins Bett ging, betrachtete Gregorius die Moscheen von Isfahan und hörte dazu die Platte des portugiesischen Sprachkurses. Er schlief mit dem Gefühl ein, daß ihm sowohl Lissabon als auch Bern mißlangen. Und daß er nicht mehr wußte, wie es war, wenn einem ein Ort nicht mißlang.
    Als er gegen vier aufwachte, war ihm danach, Doxiades anzurufen. Doch was hätte er ihm sagen können? Daß er hier war und doch auch wieder nicht? Daß er das Lehrerzimmer des Gymnasiums als Telefonzentrale für seine verwirrten Wünsche mißbraucht hatte? Und daß er nicht einmal ganz sicher war, daß das alles wirklich stattgefunden hatte?
    Wem, wenn nicht dem Griechen, hätte er es erzählen können? Gregorius dachte an den sonderbaren Abend, an dem sie das du ausprobiert hatten.
    »Ich heiße Konstantin«, hatte der Grieche während des Schachs auf einmal gesagt.
    »Raimund«, hatte er erwidert.
    Es hatte keine rituelle Besiegelung gegeben, kein Glas, keinen Handschlag, nicht einmal angeblickt hatten sie sich.
    »Das ist aber gemein von dir«, sagte der Grieche, als Gregorius eine Falle zuschnappen ließ.
    Es hatte nicht den richtigen Klang gehabt, und Gregorius hatte den Eindruck, daß sie das beide spürten.
    »Du solltest meine Gemeinheit nicht unterschätzen«, sagte er.
    Für den Rest des Abends mieden sie die Anrede.
    »Gute Nacht, Gregorius«, sagte der Grieche beim Abschied, »schlafen Sie gut.«
    »Sie auch, Doktor«, sagte Gregorius.
    Dabei war es geblieben.
    War das ein Grund, dem Griechen nichts von der schwebenden Verwirrtheit zu erzählen, in der er durch Bern stolperte? Oder war die distanzierte Nähe zwischen ihnen genau das, was es für eine solche Erzählung brauchte? Gregorius wählte und legte nach dem zweiten Klingeln auf. Manchmal hatte der Grieche diese rauhe Art,

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