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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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dieser neuen Setzung entstünden, möchten nicht ausgefallen sein und verschroben, nicht exaltiert, manieriert und gewollt. Es müßten archetypische Sätze des Portugiesischen sein, die sein Zentrum ausmachten, so daß man das Gefühl hätte, sie entsprängen ohne Umweg und ohne Verunreinigung aus dem transparenten, diamantenen Wesen dieser Sprache. Die Worte müßten makellos sein wie polierter Marmor, und sie müßten rein sein wie die Töne in einer Partita von Bach, die alles, was nicht sie selbst sind, in vollkommene Stille verwandeln. Manchmal, wenn noch ein Rest von Versöhnlichkeit mit dem sprachlichen Schlamm in mir ist, denke ich, es könnte die wohlige Stille eines zufriedenen Wohnzimmers sein oder auch die entspannte Stille zwischen Liebenden. Doch wenn mich die Wut über die klebrigen Wortgewohnheiten ganz und gar in Besitz nimmt, dann darf es nicht weniger sein als die klare, kühle Stille des lichtlosen Weltraums, in dem ich als der einzige, der Portugiesisch spricht, meine geräuschlosen Bahnen ziehe. Der Kellner, die Friseuse, der Schaffner – sie würden stutzen, wenn sie die neu gesetzten Worte hörten, und ihr Erstaunen würde der Schönheit der Sätze gelten, einer Schönheit, die nichts anderes wäre als der Glanz ihrer Klarheit. Es wären – stelle ich mir vor – zwingende Sätze, und auch unerbittlich könnte man sie nennen. Unbestechlich und unverrückbar stünden sie da, und darin glichen sie den Worten eines Gottes. Zugleich wären sie ohne Übertreibung und ohne jedes Pathos, genau und von einer Kargheit, daß man kein einziges Wort wegnehmen könnte und kein einziges Komma. Darin wären sie einem Gedicht vergleichbar, geflochten von einem Goldschmied der Worte.
     
    Gregorius tat vor Hunger der Magen weh, und er zwang sich, etwas zu essen. Später saß er mit einer Tasse Tee im dunklen Wohnzimmer. Was jetzt? Zweimal noch hatte es an der Tür geklingelt, und das erstickte Surren des Telefons hatte er zum letztenmal kurz vor Mitternacht gehört. Morgen würde es zu einer Vermißtenmeldung kommen, und dann stünde irgendwann die Polizei vor der Tür. Noch konnte er zurück. Um Viertel vor acht würde er über die Kirchenfeldbrücke gehen, das Gymnasium betreten und seine rätselhafte Abwesenheit mit irgendeiner Geschichte aus der Welt schaffen, die ihn skurril aussehen ließe, aber das war auch alles, und es paßte zu ihm. Sie würden nie etwas von der riesigen Distanz erfahren, die er im Inneren in weniger als vierundzwanzig Stunden zurückgelegt hatte.
    Doch genau das war es: Er hatte sie zurückgelegt. Und er wollte sich von den anderen nicht zwingen lassen, diese stille Reise ungeschehen zu machen. Er holte eine Europakarte und überlegte, wie man mit der Eisenbahn nach Lissabon kam. Die Bahnauskunft, erfuhr er am Telefon, war erst ab sechs Uhr wieder besetzt. Er fing an zu packen.
    Es war fast vier, als er reisefertig im Sessel saß. Draußen begann es zu schneien. Plötzlich verließ ihn aller Mut. Es war eine Schnapsidee. Eine namenlose, gefühlsverwirrte Portugiesin. Vergilbte Aufzeichnungen eines adligen Portugiesen. Ein Sprachkurs für Anfänger. Der Gedanke an die verrinnende Zeit. Deshalb floh man nicht mitten im Winter nach Lissabon.
    Gegen fünf rief Gregorius Konstantin Doxiades an, seinen Augenarzt. Oft schon hatten sie mitten in der Nacht miteinander telefoniert, um das gemeinsame Leiden der Schlaflosigkeit zu teilen. Schlaflose Menschen verband eine wortlose Solidarität. Manchmal spielte er dann mit dem Griechen eine blinde Partie Blitzschach, und danach konnte Gregorius ein bißchen schlafen, bevor es Zeit wurde, zur Schule zu gehen.
    »Ergibt keinen rechten Sinn, oder?« sagte Gregorius am Ende seiner stockenden Geschichte. Der Grieche schwieg. Gregorius kannte das. Jetzt würde er die Augen schließen und sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel fassen.
    »Ergibt durchaus einen Sinn«, sagte der Grieche jetzt. »Durchaus.«
    »Helfen Sie mir, wenn ich unterwegs nicht mehr weiterweiß?«
    »Sie rufen einfach an. Tag oder Nacht. Vergessen Sie die Ersatzbrille nicht.«
    Da war sie wieder, die lakonische Sicherheit in seiner Stimme. Eine ärztliche Sicherheit, zugleich aber eine Sicherheit, die weit über alles Berufliche hinausging; die Sicherheit eines Mannes, der sich Zeit nahm für seine Gedanken, damit sie nachher Ausdruck in Urteilen fanden, die Bestand hatten. Gregorius ging seit zwanzig Jahren zu diesem Arzt, dem einzigen, der ihm die Angst vor dem

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