Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
aufzuschreiben, die er im Laufe der Zeit unterrichtet hatte. Er setzte mit dem vorangegangenen Jahr ein und arbeitete sich nach rückwärts in die Vergangenheit. Zu jedem Namen suchte er das Gesicht, eine charakteristische Geste und eine sprechende Episode. Die drei letzten Jahre gelangen ihm mühelos, danach hatte er immer öfter das Gefühl, daß jemand fehlte. Mitte der neunziger Jahre bestanden die Klassen nur noch aus wenigen Gesichtern und Namen, und danach verwischte sich die zeitliche Reihenfolge. Übrig blieben nur noch einzelne Jungen und Mädchen, mit denen er Besonderes erlebt hatte.
Er klappte das Notizbuch zu. Von Zeit zu Zeit war er in der Stadt einem Schüler oder einer Schülerin begegnet, die er vor vielen Jahren unterrichtet hatte. Es waren jetzt keine Jungen und Mädchen mehr, sondern Männer und Frauen mit Partnern, Berufen und Kindern. Er erschrak, wenn er die Veränderungen in den Gesichtern sah. Manchmal galt sein Erschrecken dem Ergebnis der Veränderung: einer zu frühen Verbitterung, einem gehetzten Blick, einem Anzeichen von ernster Krankheit. Meistens jedoch war, was ihn zusammenfahren ließ, die bloße Tatsache, daß die veränderten Gesichter vom unaufhaltsamen Verrinnen der Zeit und dem unbarmherzigen Verfall alles Lebendigen zeugten. Er blickte dann auf seine Hände, an denen sich erste Altersflecke zeigten, und manchmal holte er Fotos von sich als Student hervor und versuchte sich zu vergegenwärtigen, wie es gewesen war, diese lange Strecke bis heute zurückzulegen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. An solchen Tagen war er schreckhafter als sonst, und dann kam es vor, daß er unangemeldet in der Praxis von Doxiades erschien, um sich wieder einmal die Angst vor dem Erblinden ausreden zu lassen. Am meisten aus dem Gleichgewicht brachten ihn Begegnungen mit Schülern, die inzwischen viele Jahre im Ausland gelebt hatten, auf einem anderen Kontinent, in einem anderen Klima, mit einer anderen Sprache. Und Sie? Immer noch im Kirchenfeld? , fragten sie, und ihre Bewegungen verrieten, daß sie weitergehen wollten. In der Nacht nach einer solchen Begegnung pflegte er sich zuerst gegen diese Frage zu verteidigen und später gegen das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.
Und jetzt, wo ihm all das durch den Kopf ging, saß er, seit mehr als vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf, im Zug und fuhr einer ungewissen Zukunft entgegen, wie er sie noch nie vor sich gehabt hatte.
Der Aufenthalt in Lausanne war eine Versuchung. Am selben Bahnsteig gegenüber fuhr der Zug nach Bern ein. Gregorius stellte sich vor, wie er im Berner Bahnhof aussteigen würde. Er sah auf die Uhr. Wenn er ein Taxi ins Kirchenfeld nähme, könnte er es zur vierten Unterrichtsstunde gerade noch schaffen. Der Brief – er müßte morgen den Briefträger abfangen oder Kägi bitten, ihm den Umschlag ungeöffnet zurückzugeben. Unangenehm, aber nicht unmöglich. Jetzt fiel sein Blick auf das Notizbuch auf dem Abteiltisch. Ohne es zu öffnen, sah er die Liste der Schülernamen vor sich. Und auf einmal begriff er: Was als der Versuch begonnen hatte, sich nach dem Entgleiten der letzten Berner Häuser an etwas Vertrautem festzuhalten, war im Laufe der folgenden Stunde immer mehr zu einem Abschiednehmen geworden. Um von etwas Abschied nehmen zu können, dachte er, während der Zug sich in Bewegung setzte, mußte man ihm auf eine Weise entgegentreten, die inneren Abstand schuf. Man mußte die unausgesprochene, diffuse Selbstverständlichkeit, mit der es einen umfangen hatte, in eine Klarheit verwandeln, die erkennen ließ, was es einem bedeutete. Und das hieß, daß es zu etwas gerinnen mußte, das übersichtliche Konturen hatte. Zu etwas, das so übersichtlich war wie die Liste der vielen Schüler, die sein Leben mehr bestimmt hatten als alles andere. Es war Gregorius, als ließe der Zug, der jetzt aus dem Bahnhof rollte, auch ein Stück von ihm selbst hinter sich zurück. Ein bißchen kam es ihm vor, als triebe er auf einer Eisscholle, die sich durch ein sanftes Erdbeben gelöst hatte, aufs offene, kalte Meer hinaus.
Als der Zug an Fahrt gewann, schlief er ein und erwachte erst, als er spürte, wie der Wagen im Bahnhof von Genf zum Stehen kam. Auf dem Weg zum französischen Hochgeschwindigkeitszug war er aufgeregt, als bräche er zu einer wochenlangen Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn auf. Kaum hatte er sich auf seinen Platz gesetzt, füllte sich der Wagen mit einer französischen Reisegesellschaft. Ein Geschnatter voll von
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