Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Erblinden zu nehmen verstand. Manchmal verglich er ihn mit seinem Vater, der sich nach dem frühen Tod seiner Frau überall – ganz gleich, wo er war, und ganz gleich, was er tat – in der verstaubten Sicherheit eines Museums aufzuhalten schien. Gregorius hatte früh gelernt, daß sie sehr zerbrechlich war, diese Sicherheit. Er hatte seinen Vater gemocht, und es hatte Momente gegeben, wo die Empfindung sogar stärker und tiefer war als ein bloßes Mögen. Aber er hatte darunter gelitten, daß der Vater keiner war, auf den man sich stützen, an dem man sich festhalten konnte, keiner wie der Grieche, auf dessen felsenfestes Urteil man bauen konnte. Später hatte er ob dieses Vorwurfs manchmal ein schlechtes Gewissen gehabt. Die Sicherheit, die er vermißt hatte, war nicht etwas, das einer in der Hand hatte, so daß man ihm das Fehlen vorwerfen konnte wie eine Verfehlung. Es mußte einer Glück haben mit sich selbst, um ein sicherer Mensch zu werden. Und viel Glück hatte der Vater nicht gehabt, weder mit sich selbst noch mit anderen.
Gregorius setzte sich an den Küchentisch und entwarf Briefe an den Rektor. Sie wurden entweder zu schroff oder warben zu entschuldigend um Verständnis. Um sechs rief er bei der Bahnauskunft an. Von Genf aus war man sechsundzwanzig Stunden unterwegs. Es ging über Paris und Irún im Baskenland, und von dort mit dem Nachtzug nach Lissabon, wo man gegen elf Uhr morgens ankam. Gregorius bestellte die Fahrkarte. Der Zug nach Genf ging um halb acht.
Jetzt gelang ihm der Brief.
Sehr geehrter Herr Rektor, lieber Kollege Kägi,
Sie werden inzwischen erfahren haben, daß ich gestern ohne Erklärung aus dem Unterricht ging und nicht mehr zurückkehrte, und Sie werden auch wissen, daß ich unauffindbar blieb. Ich bin wohlauf, es ist mir nichts zugestoßen. Wohl aber habe ich im Laufe des gestrigen Tages eine Erfahrung gemacht, die vieles verändert hat. Sie ist zu persönlich und auch noch viel zu unübersichtlich, als daß ich sie jetzt zu Papier bringen könnte. Ich muß Sie einfach bitten, mein abruptes und unerklärtes Tun zu akzeptieren. Sie kennen mich, denke ich, gut genug, um zu wissen, daß es nicht aus Leichtsinn, Verantwortungslosigkeit oder Gleichgültigkeit geschieht. Ich begebe mich auf eine weite Reise, und es ist ganz offen, wann ich zurückkehre und in welchem Sinn. Ich erwarte nicht, daß Sie die Stelle für mich offenhalten. Der größte Teil meines Lebens ist aufs engste mit diesem Gymnasium verflochten gewesen, und ich bin sicher, daß ich es vermissen werde. Doch jetzt treibt mich etwas davon weg, und es könnte gut sein, daß diese Bewegung endgültig ist. Sie und ich, wir sind beide Bewunderer von Marc Aurel, und Sie werden sich an diese Stelle aus seinen Selbstbetrachtungen erinnern: »Vergeh dich ruhig, vergeh dich an dir selbst und tu dir Gewalt an, meine Seele; doch später wirst du nicht mehr Zeit haben, dich zu achten und zu respektieren. Denn ein Leben nur, ein einziges, hat jeder. Es aber ist für dich fast abgelaufen, und du hast in ihm keine Rücksicht auf dich selbst genommen, sondern hast getan, als ginge es bei deinem Glück um die anderen Seelen… Diejenigen aber, die die Regungen der eigenen Seele nicht aufmerksam verfolgen, sind zwangsläufig unglücklich.«
Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir stets entgegengebracht haben, und für die gute Zusammenarbeit. Sie werden – dessen bin ich sicher – den Schülern gegenüber die richtigen Worte finden, Worte, die sie auch wissen lassen, wie gern ich mit ihnen gearbeitet habe. Bevor ich gestern gegangen bin, habe ich sie betrachtet und gedacht: Wieviel Zeit sie noch vor sich haben!
In der Hoffnung auf Ihr Verständnis und mit den besten Wünschen für Sie und Ihre Arbeit verbleibe ich
Ihr Raimund Gregorius
P.S. Ich habe meine Bücher auf dem Pult gelassen. Würden Sie sie aufheben und zusehen, daß ihnen nichts geschieht?
Gregorius warf den Brief im Bahnhof ein. Nachher, am Geldautomaten, zitterten seine Hände. Er putzte die Brille und vergewisserte sich, daß er den Paß, die Fahrkarten und das Adreßbuch bei sich hatte. Er fand einen Fensterplatz. Als der Zug den Bahnhof in Richtung Genf verließ, schneite es in großen, langsamen Flocken.
4
So lange wie möglich hielt sich Gregorius mit dem Blick an den letzten Häusern der Stadt Bern fest. Als sie ihm schließlich unwiderruflich aus dem Blick gerieten, holte er das Notizbuch hervor und begann, die Namen der Schüler
Weitere Kostenlose Bücher