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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Stufe mit einem großmäuligen Gassenjungen zu stellen. Jorge hatte Amadeu niedergerungen, und er hatte es gelassen. Einen Moment lang war Gregorius über O’Kelly enttäuscht gewesen.
    Gregorius ging durchs Haus, wich den Ratten aus, setzte sich auf den Schülerplatz, den er Prado neulich angedichtet hatte, mit Blickverbindung zu Maria João, und fand im Untergeschoß schließlich die ehemalige Bibliothek, in der sich der junge Amadeu nach dem Bericht von Pater Bartolomeu hatte einschließen lassen, um die Nacht hindurch lesen zu können. Wenn Amadeu ein Buch liest, dann hat es nachher keine Buchstaben mehr . Die Regale waren leer, verstaubt und verdreckt. Das einzige Buch, das übriggeblieben war, lag als Stütze unter einem Regal, um es am Umkippen zu hindern. Gregorius brach die Ecke einer verfaulten Diele heraus und klemmte sie an Stelle des Buchs darunter. Dann klopfte er das Buch aus und blätterte. Es war eine Biographie über Juana la Loca. Er nahm sie mit in das Büro von Senhor Cortês.
     
    Auf António de Oliveira Salazar, den adligen Professor, hereinzufallen war ja viel leichter als auf Hitler, Stalin oder Franco. Mit solchem Abschaum hättest Du Dich nie abgegeben, dagegen wärst Du durch Deine Intelligenz und Deinen untrüglichen Sinn für Stil gefeit gewesen, und Du hast den Arm nie gehoben, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Doch der Mann in Schwarz mit dem intelligenten, angestrengten Gesicht unter der Melone: Manchmal habe ich gedacht, daß Du vielleicht eine Verwandtschaft zu ihm empfunden hast. Nicht in seinem gnadenlosen Ehrgeiz und seiner ideologischen Verblendung, wohl aber in der Strenge gegenüber Euch selbst. Aber Vater: Er hat doch mit den anderen paktiert! Und hat zugesehen bei jenen Verbrechen, für die es nie angemessene Worte geben wird, solange die Menschen leben! Und bei uns gab es doch Tarrafal! Es gab Tarrafal, Vater! TARRAFAL ! Wo war Eure Phantasie? Nur ein einziges Mal hättet Ihr Hände vor Euch sehen müssen, wie ich sie an João Eça gesehen habe: verbrannt, vernarbt, verstümmelt, Hände, die einmal Schubert gespielt hatten. Warum habt Ihr Euch nie solche Hände angesehen, Vater?
    War es die Angst eines Kranken, der aus physischer Schwäche heraus fürchtete, sich mit der Staatsmacht anzulegen? Und der deshalb wegsah? War es Dein gebeugter Rücken, der Dir verbot, Rückgrat zu zeigen? Doch nein, ich wehre mich gegen eine solche Deutung, sie wäre ungerecht, denn sie würde Dir gerade hier, wo es darauf ankommt, die Würde absprechen, die Du sonst stets unter Beweis gestellt hast: die Stärke, Dich Deinem Leiden in Deinen Gedanken und Taten niemals zu unterwerfen.
    Einmal, Vater, ein einziges Mal, war ich froh darüber, daß Ihr in den Kreisen des gutgekleideten, zylinderbedeckten Verbrechens Fäden ziehen konntet, das muß ich einräumen: als Ihr es schafftet, mich von der Mocidade zu befreien. Ihr habt mir das Entsetzen angesehen, als ich mir vorstellte, das grüne Hemd anziehen und den Arm heben zu müssen. Es wird nicht geschehen , sagtet Ihr einfach, und ich war glücklich über die liebevolle Unerbittlichkeit, die in Eurem Blick lag, ich hätte nicht Euer Gegner sein mögen. Gewiß, auch Du selbst wolltest Dir Deinen Sohn nicht als verkitschten Lagerfeuerproleten vorstellen müssen. Trotzdem habe ich Dein Tun – worin es auch immer bestanden haben mag, ich will es nicht wissen – als Ausdruck tiefer Zuneigung empfunden, und in der Nacht nach der Befreiung sind Dir die heftigsten Gefühle zugeflossen.
    Komplizierter war es, als Ihr verhindert habt, daß ich wegen Körperverletzung an Adriana vor Gericht kam. Der Sohn des Richters: Ich weiß nicht, welche Fäden Ihr gezogen, welche Gespräche Ihr geführt habt. Ich sage es Euch heute: Ich wäre lieber vor den Richter getreten und hätte für das moralische Recht gefochten, das Leben über das Gesetz stellen zu dürfen. Trotzdem hat mich sehr bewegt, was Du getan hast, was immer es war. Ich könnte es nicht erklären, aber ich war sicher, daß Dich keines der beiden Dinge bestimmt hatte, die ich nicht hätte akzeptieren können: die Furcht vor der Schande oder die Freude daran, Deinen Einfluß geltend machen zu können. Du tatest es einfach, um mich zu schützen. Ich bin stolz auf dich , sagtest Du, als ich Dir die medizinische Sachlage erklärt und den Abschnitt im Lehrbuch gezeigt hatte. Danach umarmtest Du mich, das einzige Mal nach Ende der Kindheit. Ich roch den Tabak in Deinen Kleidern und die Seife im

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