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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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zur Rede stellen – das war etwas, das man schlechterdings nicht tun konnte . Es hätte das ganze Gefüge und die gesamte Architektur der Familie zum Einsturz gebracht. Und es war nicht nur etwas, das man nicht tun konnte; es war etwas, das man nicht einmal denken konnte. Statt es zu denken und zu tun, legte ich in der Vorstellung die beiden Bilder übereinander: den vertrauten, privaten Vater, Herrscher der Stummheit, und den Mann in der Robe, der mit gemessenen Worten und sonorer, unantastbarer Stimme, die überquoll von formelhafter Eloquenz, in den Gerichtssaal hineinsprach, einen Saal, in dem die Stimmen ein Hallen auslösten, das mich frösteln ließ. Und wann immer ich dieses Exerzitium der Einbildungskraft durchlief, erschrak ich, denn es kam kein Widerspruch heraus, der mich hätte trösten können, sondern es erschien mir eine Gestalt, die aus einem Guß war. Es war hart, Vater, daß sich alles auf diese eherne Weise zusammenfügte, und wenn ich es gar nicht mehr ertrug, daß Ihr in mir anwesend wart wie ein steinernes Monument, rief ich einen Gedanken zu Hilfe, den ich mir sonst verbot, weil er das Heiligtum der Intimität schändete: daß Du hin und wieder Mamã umarmt haben mußtest.
    Warum bist Du Richter geworden, Papá, und nicht Verteidiger? Warum hast Du Dich auf die Seite der Strafenden geschlagen? Es muß Richter geben , hättest Du wahrscheinlich gesagt, und natürlich weiß ich, daß gegen diesen Satz wenig zu machen ist. Aber warum mußte gerade mein Vater einer von ihnen werden?
     
    Bis hierher war es ein Brief an den noch lebenden Vater, ein Brief, den der Student Prado in Coimbra geschrieben hatte, man konnte sich vorstellen, daß er gleich nach der erwähnten Rückkehr begonnen worden war. Mit dem nächsten Bogen veränderten sich Tinte und Handschrift. Der Federstrich war jetzt selbstbewußter, lockerer und wie abgeschliffen von der beruflichen Routine ärztlicher Notizen. Und die Verbformen verrieten den Zeitpunkt nach dem Tod des Richters.
    Gregorius rechnete nach: Zwischen dem Ende von Prados Studium und dem Tod des Vaters lagen zehn Jahre. Hatte das angefangene stumme Gespräch mit dem Vater im Sohn so lange gestockt? In der tiefsten Tiefe des Empfindens waren zehn Jahre wie eine Sekunde, niemand wußte das besser als Prado.
    Hatte der Sohn bis zum Tod des Vaters warten müssen, um an dem Brief weiterschreiben zu können? Nach dem Studium war Prado nach Lissabon zurückgekehrt und hatte dort in der neurologischen Klinik gearbeitet, das wußte Gregorius von Mélodie.
    »Ich war da neun und froh, daß er wieder da war; heute würde ich sagen, es war ein Fehler«, hatte sie gesagt. »Aber er hatte eben Heimweh nach Lissabon, immer hatte er Heimweh, kaum war er weg, wollte er wieder zurück, es gab in ihm sowohl die verrückte Liebe zur Eisenbahn als auch dieses Heimweh, er war voller Widersprüche, mein großer, strahlender Bruder, es gab den Reisenden in ihm, den Mann mit Fernweh, er war fasziniert von der Transsibirischen Eisenbahn, Vladivostok war ein heiliger Name aus seinem Mund, und es gab auch den anderen in ihm, denjenigen mit diesem Heimweh, es ist wie Durst, pflegte er zu sagen, wenn es mich überfällt, das Heimweh, dann ist es wie unerträglicher Durst, vielleicht muß ich alle Zugstrecken kennen, um jederzeit heimkommen zu können, ich würde es in Sibirien nicht aushalten, stell dir vor: das Klopfen der Räder über viele Tage und Nächte hinweg, es trüge mich immer weiter weg von Lissabon, immer weiter. «
    Es wurde bereits hell, als Gregorius das Wörterbuch zur Seite legte und sich die brennenden Augen rieb. Er zog die Vorhänge zu und legte sich in den Kleidern unter die Decke. Ich bin dabei, mich zu verlieren , das war der Gedanke gewesen, der ihn zum Bubenbergplatz hatte reisen lassen, den er dann nicht mehr hatte berühren können. Wann war das gewesen?
    Und wenn ich mich verlieren will ?
    Gregorius glitt in einen leichten Schlaf, durch den ein Wirbelsturm von Gedankensplittern fegte. Die grüne Cecília redete den Richter ständig mit Euer Gnaden an, sie stahl kostbare, glänzende Dinge, Diamanten und andere Edelsteine, vor allem aber stahl sie Namen, Namen und Küsse, die von klopfenden Rädern durch Sibirien bis nach Vladivostok getragen wurden, von wo es viel zu weit nach Lissabon war, zu dem Ort der Gerichte und Schmerzen.
    Ein warmer Wind streifte ihn, als Gregorius gegen Mittag die Vorhänge zurückzog und das Fenster öffnete. Minutenlang blieb er stehen

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