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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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und spürte, wie das Gesicht unter dem Ansturm der Wüstenluft trocken und heiß wurde. Das zweite Mal in seinem Leben ließ er sich etwas zu essen aufs Zimmer bringen, und als er das Tablett vor sich sah, dachte er an das andere Mal, in Paris, auf jener verrückten Reise, die Florence nach dem ersten Frühstück in seiner Küche vorgeschlagen hatte. Begierde, Wohlgefallen und Geborgenheit . Am flüchtigsten sei die Begierde, hatte Prado gesagt, dann komme das Wohlgefallen, und am Ende zerbreche auch die Geborgenheit. Deshalb komme es auf Loyalität an, auf eine Parteinahme der Seele jenseits der Gefühle. Ein Hauch von Ewigkeit. Du hast nie wirklich mich gemeint , hatte er am Ende zu Florence gesagt, und sie hatte nicht widersprochen.
    Gregorius rief Silveira an, der ihn für abends zum Essen einlud. Dann packte er den Bildband über Isfahan ein, den ihm die Schnyders in der Elfenau geschenkt hatten, und ließ sich vom Zimmerkellner erklären, wo er Schere, Reißzwecke und Klebeband kaufen könne. Gerade als er gehen wollte, rief Natalie Rubin an. Sie war enttäuscht, daß die persische Grammatik trotz Eilpost noch nicht angekommen war.
    »Ich hätte sie Ihnen einfach bringen sollen!« sagte sie, und dann, erschrocken und ein bißchen verlegen über die eigenen Worte, fragte sie, was er übers Wochenende mache.
    Gregorius konnte nicht widerstehen. »Ich sitze ohne Strom in einer Schule mit Ratten und lese über die schwierige Liebe eines Sohnes zu seinem Vater, der sich wegen Schmerzen oder Schuld das Leben nahm, niemand weiß es.«
    »Sie wollen mich…«, sagte Natalie.
    »Nein, nein«, sagte Gregorius, »ich will Sie nicht auf den Arm nehmen. Es ist genau, wie ich sage. Nur: Es ist unmöglich zu erklären, einfach unmöglich, und dann ist da auch noch dieser Wind aus der Wüste…«
    »Sie sind kaum mehr… kaum mehr wiederzuerkennen. Wenn ich das…«
    »Sie dürfen das ruhig sagen, Natalie, ich kann’s manchmal selbst nicht glauben.«
    Ja, er rufe sie an, sobald die Grammatik angekommen sei.
    »Werden Sie auch das Persisch in der sagenhaften Rattenschule lernen?« Sie lachte über die eigene Wortschöpfung.
    »Natürlich. Dort ist ja Persien.«
    »Ich geb’s auf.«
    Sie lachten.

28
     
    Warum, Papá, hast Du nie mit mir über Deine Zweifel, Deine inneren Kämpfe gesprochen? Warum hast du mir Deine Briefe an den Justizminister, Deine Gesuche um Entlassung, nicht gezeigt? Warum hast Du sie alle vernichtet, so daß es nun ist, als hättest Du sie nie geschrieben? Warum mußte ich von Deinen Anläufen zur Befreiung durch Mamã erfahren, die es mir mit Scham erzählte, obwohl es Grund zu Stolz gewesen wäre?
    Wenn es die Schmerzen waren, die Dich schließlich in den Tod trieben: Gut, dagegen hätte auch ich nichts tun können. Bei Schmerzen ist die Kraft der Worte bald erschöpft. Sollten aber nicht die Schmerzen den Ausschlag gegeben haben, sondern die Empfindung der Schuld und des Versagens, weil Du am Ende doch nicht die Kraft aufgebracht hattest, Dich von Salazar loszusagen und die Augen nicht länger zu verschließen vor Blut und Folter: Warum hast Du dann nicht mit mir gesprochen? Mit Deinem Sohn, der einmal Priester werden wollte?
     
    Gregorius sah auf. Die heiße Luft aus Afrika strömte durch die offenen Fenster des Büros von Senhor Cortês. Der wandernde Lichtkegel auf den angefaulten Dielen war heute von einem kräftigeren Gelb als neulich. An den Wänden hingen die Bilder von Isfahan, die er ausgeschnitten hatte. Ultramarin und Gold, Gold und Ultramarin, und immer noch mehr davon, Kuppeln, Minarette, Märkte, Bazare, verhüllte Frauengesichter mit tiefschwarzen, lebenshungrigen Augen. Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama.
    Als erstes hatte er nach der Bibel auf seinem Pullover gesehen, der bereits nach Moder und Schimmel roch. Gott straft Ägypten mit Plagen, weil der Pharao in seinem Willen verstockt ist , hatte Prado zu O’Kelly gesagt, aber es war Gott selbst, der ihn so gemacht hat! Und zwar hat er ihn so gemacht, um dann seine Macht demonstrieren zu können! Was für ein eitler, selbstgefälliger Gott! Was für ein Angeber! Gregorius las die Geschichte nach: Es stimmte.
    Einen halben Tag lang, hatte O’Kelly erzählt, hatten sie darüber gestritten, ob Prado in seiner Rede von Gott wirklich als Angeber, als gabarola oder fanfarrão , sprechen sollte. Ob es nicht doch zu weit ginge, den HERRN – wenn auch nur für die winzige Dauer eines einzigen frechen Worts – auf eine

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