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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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kühnen Beutezug durch alle Stockwerke. Nur ganz allmählich begriff ich, daß die Frau in meiner Vorstellung jene andere Diebin rächte, die Ihr ins Gefängnis geschickt hattet. Als ich einen Mann mit lauerndem Gang auf sie zugehen sah, eilte ich zu ihr und flüsterte: »Cuidado!« Ihre Geistesgegenwart verschlug mir die Sprache. »Vem, amor« , sagte sie und hängte sich bei mir ein, den Kopf an meine Schulter geschmiegt. Auf der Straße sah sie mich an, und jetzt war eine Ängstlichkeit in ihrem Blick zu lesen, die in verblüffendem Gegensatz zu ihrem nonchalanten, kaltblütigen Tun stand.
    »Warum?« Der Wind wehte ihr das üppige Haar ins Gesicht und verbarg für einen Moment den Blick. Ich strich es ihr aus der Stirn.
    »Es ist eine lange Geschichte«, sagte ich, »aber um sie kurz zu machen: Ich liebe Diebinnen. Vorausgesetzt, ich kenne ihren Namen.«
    Sie spitzte die Lippen und überlegte einen Augenblick. »Diamantina Esmeralda Ermelinda.«
    Sie lächelte, drückte mir einen Kuß auf die Lippen und war um die Ecke verschwunden. Bei Tisch saß ich Euch nachher mit einem Gefühl des Triumphs und mit der Milde des unerkannten Siegers gegenüber. In diesem Augenblick verspotteten alle Diebinnen der Welt alle Gesetzbücher der Welt.
    Eure Gesetzbücher: Solange ich denken kann, haben mir die gleichförmigen Bände aus schwarzem Leder Ehrfurcht eingeflößt, eine mosaische Ehrfurcht. Es waren nicht Bücher wie andere, und was darin stand, hatte einen ganz besonderen Rang und eine einzigartige Dignität. So sehr waren sie allem Gewöhnlichen entrückt, daß es mich überraschte, darin portugiesische Wörter anzutreffen – wenngleich es schwerfällige, barocke und verschnörkelte Wörter waren, ersonnen, wie mir schien, von Bewohnern eines anderen, kalten Sterns. Noch vergrößert wurde ihre Fremdheit und Ferne durch den scharfen Geruch nach Staub, der aus dem Regal drang und mich auf den vagen Gedanken brachte, daß es zum Wesen dieser Bücher gehören mußte, daß niemand sie jemals herausnahm und sie ihren hehren Inhalt ganz für sich behielten.
    Viel später, als ich zu begreifen begann, worin die Willkür einer Diktatur bestand, sah ich die ungebrauchten Gesetzbücher der Kindheit manchmal vor mir, und dann warf ich Euch in kindischen Gedankenspielen vor, daß Ihr sie nicht herausnahmt, um sie Salazars Schergen ins Gesicht zu schleudern.
    Ihr habt nie das Verbot ausgesprochen, sie aus dem Regal zu nehmen, nein, nicht Ihr habt es ausgesprochen, es waren die schweren, majestätischen Bände selbst, die mir mit drakonischer Strenge untersagten, sie auch nur im mindestens zu verrücken. Wie oft habe ich mich als kleiner Junge in Dein Arbeitszimmer geschlichen und habe mit Herzklopfen gegen den Wunsch angekämpft, einen Band in die Hand zu nehmen und einen Blick auf den heiligen Inhalt zu werfen! Ich war zehn, als ich es endlich tat, mit zitternden Fingern und nach mehrmaligem Blick in die Halle, der mich vor dem Ertapptwerden schützen sollte. Ich wollte dem Mysterium Eures Berufes auf die Spur kommen und verstehen, wer Du jenseits der Familie, draußen in der Welt, warst. Es war eine gewaltige Enttäuschung zu sehen, daß die spröde, formelhafte Sprache, die zwischen den Deckeln herrschte, so gar nichts von einer Offenbarung an sich hatte, nichts, vor dem man das erhoffte und befürchtete Schaudern hätte empfinden können.
    Bevor Ihr Euch damals, nach der Verhandlung gegen die Diebin, erhobt, trafen sich unsere Blicke. So jedenfalls schien es mir. Ich habe gehofft – und sie dauerte wochenlang, diese Hoffnung –, Du würdest die Sprache von Dir aus darauf bringen. Schließlich verfärbte sich die Hoffnung und wurde zur Enttäuschung, die sich weiter verfärbte, bis sie in die Nähe des Aufbegehrens und des Zorns geriet: Hieltet Ihr mich für zu jung dafür, zu beschränkt? Doch das paßte nicht dazu, daß Ihr sonst alles von mir verlangt und als selbstverständlich erwartet habt. War es Euch peinlich, daß Euer Sohn Euch in der Robe gesehen hatte? Aber ich hatte nie das Gefühl, daß Ihr Euch wegen Eures Berufs geniertet. Hattet Ihr am Ende Angst vor meinen Zweifeln? Ich würde sie haben, auch wenn ich noch ein halbes Kind war; das wußtet Ihr, dafür kanntet Ihr mich gut genug, zumindest hoffe ich das. War es also Feigheit – eine Art der Schwäche, die ich sonst niemals mit Euch in Verbindung brachte?
    Und ich? Warum habe ich selbst die Sprache nicht darauf gebracht? Die Antwort ist einfach und klar: Euch

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