Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Gesicht. Ich rieche sie heute noch, und immer noch kann ich den Druck Deiner Arme spüren, der länger anhielt, als ich erwartet hatte. Ich träumte von diesen Armen, und da waren es flehentlich ausgestreckte Arme, ausgestreckt mit der inbrünstigen Bitte an den Sohn, ihn von den Schmerzen zu befreien wie ein gütiger Zauberer.
In diesen Traum spielte die übergroße Erwartung und Hoffnung hinein, die stets auf Deinem Gesicht erschien, wenn ich Dir den Mechanismus Deiner Krankheit erklärte, der unumkehrbaren Verkrümmung des Rückgrats, die nach Vladimir Bechterev benannt ist, und wenn wir über das Mysterium des Schmerzes sprachen. Das waren Momente großer und tiefer Intimität, wo Du mit Deinem Blick an meinen Lippen hingst und jedes Wort des angehenden Arztes aufsogst wie eine Offenbarung. Da war ich der wissende Vater und Du der hilfsbedürftige Sohn. Wie Dein Vater gewesen und zu Dir gewesen sei, fragte ich Mamã nach einem dieser Gespräche. »Ein stolzer, einsamer, unerträglicher Tyrann, der mir aus der Hand fraß«, sagte sie. Ein fanatischer Verfechter des Kolonialismus sei er gewesen. »Er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, wie du darüber denkst.«
Gregorius fuhr ins Hotel und zog sich für das Essen bei Silveira um. Der Mann wohnte in einer Villa in Belém. Ein Dienstmädchen öffnete, und dann kam ihm Silveira in der riesigen Halle entgegen, die mit dem Kronleuchter wie das Entree einer Botschaft wirkte. Er bemerkte, wie Gregorius sich bewundernd umsah.
»Nach der Scheidung und dem Auszug der Kinder war pötzlich alles viel zu groß. Aber wegziehen mochte ich auch nicht«, sagte Silveira, auf dessen Gesicht Gregorius die gleiche Müdigkeit entdeckte wie bei ihrer ersten Begegnung im Nachtzug.
Gregorius wußte später nicht mehr, wie es gekommen war. Sie saßen beim Dessert, und er erzählte von Florence, von Isfahan und von den verrückten Aufenthalten im Liceu draußen. Ein bißchen war es wie damals im Schlafwagen, als er diesem Mann erzählt hatte, wie er im Klassenzimmer aufgestanden und gegangen war. »Ihr Mantel war feucht, als Sie ihn vom Haken nahmen, ich erinnere mich genau, es regnete«, hatte Silveira bei der Suppe gesagt, »und ich weiß auch noch, was Licht auf Hebräisch heißt: o¯r.« Da hatte Gregorius von der namenlosen Portugiesin erzählt, die er damals im Schlafwagen ausgelassen hatte.
»Kommen Sie mit«, sagte Silveira nach dem Kaffee und führte ihn in den Keller. »Hier, das war die Campingausrüstung für die Kinder. Alles vom Feinsten. Hat nichts genützt, eines Tages ließen sie das Zeug einfach liegen, kein Interesse mehr, kein Dank, nichts. Ein Heizofen, eine Stehlampe, eine Kaffeemaschine, alles mit Akku. Warum nehmen Sie es nicht einfach mit? Fürs Liceu? Ich sag’s dem Fahrer, er prüft die Batterien und fährt es hin.«
Die Großzügigkeit allein war es nicht. Es war das Liceu. Schon vorhin hatte er sich die verlassene Schule beschreiben lassen und hatte immer mehr wissen wollen; doch das hätte noch bloße Neugierde sein können, eine Neugier wie dem verwunschenen Märchenschloß gegenüber. Das Angebot mit den Campingsachen dagegen zeigte ein Verständnis seinem skurrilen Tun gegenüber – oder, wenn es nicht Verständnis war, so doch Achtung –, das er von niemandem erwartet hätte, zuletzt von einem Geschäftsmann, dessen Leben um das Geld herum angelegt war.
Silveira sah ihm die Überraschung an. »Die Sache mit dem Liceu und den Ratten gefällt mir einfach«, sagte er lächelnd. »Etwas so ganz anderes, etwas, das sich nicht rechnet. Kommt mir vor, als hätte es etwas mit Marc Aurel zu tun.«
Als er eine Weile allein im Wohnzimmer war, sah sich Gregorius die Bücher an. Haufenweise Literatur über Porzellan. Handelsrecht. Reisebücher. Wörterbücher der englischen und französischen Geschäftssprache. Ein Lexikon der Kinderpsychologie. Ein zusammengewürfeltes Regal mit Romanen.
Auf einem Tischchen in der Ecke stand ein Foto der beiden Kinder, Junge und Mädchen. Gregorius dachte an Kägis Brief. In dem Gespräch am Morgen hatte Natalie Rubin erwähnt, daß der Rektor Stunden ausfallen lasse, seine Frau sei in der Klinik, in der Waldau. Es gibt Momente, da sieht meine Frau aus, als zerfalle sie , hatte in dem Brief gestanden.
»Ich habe mit einem Geschäftsfreund telefoniert, der oft im Iran ist«, sagte Silveira, als er zurückkam, »man braucht ein Visum, aber sonst ist es kein Problem, nach Isfahan zu reisen.«
Er stutzte, als
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