Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
der Küche kam, der Rauch der Zigarette, an der der Koch hin und wieder zog –, eine Wirklichkeit besaß, die nichts mit bloßer Möglichkeit zu tun hatte und auch nicht mit verwirklichter Möglichkeit, die vielmehr einfache und pure Wirklichkeit war, angefüllt mit der Dichte und überwältigenden Zwangsläufigkeit, die etwas auszeichnete, das ganz und gar wirklich war?
Gregorius saß vor dem leer gegessenen Teller und der dampfenden Kaffeetasse und hatte das Gefühl, noch nie in seinem gesamten Leben so wach gewesen zu sein wie jetzt. Und es war, schien ihm, nicht eine Sache des Grades, wie wenn jemand langsam den Schlaf abschüttelte und immer wacher wurde, bis er ganz da war. Es war anders. Es war eine andere, neue Art von Wachheit, eine neue Art, in der Welt zu sein, von der er bisher nichts gewußt hatte. Als der Gare de Lyon in Sicht kam, ging er zu seinem Platz zurück, und als er nachher den Fuß auf den Bahnsteig setzte, schien es ihm, als stiege er zum erstenmal bei vollem Bewußtsein aus einem Zug.
5
Die Wucht der Erinnerung traf ihn unvorbereitet. Er hatte nicht vergessen, daß dies ihr erster Bahnhof gewesen war, ihre erste gemeinsame Ankunft in einer fremden Stadt. Natürlich hatte er das nicht vergessen. Aber er hatte nicht damit gerechnet, daß es, wenn er hier stünde, sein würde, als sei überhaupt keine Zeit verstrichen. Die grünen Eisenträger und die roten Rohre. Die Rundbogen. Das lichtdurchlässige Dach.
»Laß uns nach Paris fahren!« hatte Florence beim ersten Frühstück in seiner Küche plötzlich gesagt, die Arme um das angezogene Bein geschlungen.
»Du meinst…«
»Ja, jetzt. Jetzt gleich!«
Sie war seine Schülerin gewesen, ein hübsches, meist ungekämmtes Mädchen, das durch seine aufreizende Launenhaftigkeit allen den Kopf verdrehte. Von einem Quartal auf das nächste war sie dann ein As in Latein und Griechisch geworden, und als er die freiwillige Hebräischklasse jenes Jahres zum erstenmal betrat, saß sie in der ersten Reihe. Doch Gregorius wäre nicht im Traum auf den Gedanken gekommen, daß das etwas mit ihm zu tun haben könnte.
Es kam die Maturitätsprüfung, und danach verging noch einmal ein Jahr, bevor sie sich in der Cafeteria der Universität begegneten und sitzen blieben, bis man sie hinauswarf.
»Was bist du für eine Blindschleiche!« hatte sie gesagt, als sie ihm die Brille abnahm. »Hast damals nichts gemerkt! Dabei hat jeder es gewußt! Jeder !«
Richtig war, dachte Gregorius, als er jetzt im Taxi zum Gare Montparnasse saß, daß er einer war, der so etwas nicht bemerkte – einer, der sogar vor sich selbst so unscheinbar war, daß er nicht daran glauben mochte, jemand könnte ihm – ihm! – ein starkes Gefühl entgegenbringen. Doch bei Florence hatte er damit recht behalten.
»Du hast nie wirklich mich gemeint«, hatte er am Ende ihrer fünfjährigen Ehe zu ihr gesagt.
Es waren die einzigen anklagenden Worte, die er während der ganzen Zeit zu ihr gesagt hatte. Sie hatten gebrannt wie Feuer, und es war gewesen, als zerfiele alles zu Asche.
Sie hatte zu Boden gesehen. Trotz allem hatte er auf Widerspruch gehofft. Er war nicht gekommen.
la coupole. Gregorius hatte nicht damit gerechnet, daß er den Boulevard du Montparnasse entlangfahren und das Restaurant sehen würde, in dem ihre Trennung besiegelt worden war, ohne daß sie darüber jemals ein Wort gesprochen hätten. Er ließ den Fahrer anhalten und blickte eine Weile schweigend hinüber zu der roten Markise mit den gelben Buchstaben und den drei Sternen links und rechts. Es war eine Auszeichnung gewesen, daß man Florence, eine Doktorandin, hierher zu dieser Romanistenkonferenz eingeladen hatte. Am Telefon hatte sie aufgekratzt geklungen, beinahe hysterisch, wie er fand, so daß er zögerte, sie am Wochenende wie verabredet abzuholen. Doch dann war er doch gefahren und hatte sich mit ihren neuen Freunden in diesem berühmten Lokal getroffen, dessen Geruch nach exquisitem Essen und teuersten Weinen ihm schon beim Eintreten bewiesen hatte, daß er nicht hierher gehörte.
»Einen Moment noch«, sagte er jetzt zum Fahrer und ging hinüber.
Es hatte sich nichts verändert, und er sah den Tisch sofort, an dem er, denkbar unpassend angezogen, diesen literaturwissenschaftlichen Schwadroneuren die Stirn geboten hatte. Um Horaz war es gegangen und um Sappho, daran erinnerte er sich, als er jetzt den eiligen und gereizten Kellnern im Weg stand. Keiner hatte mithalten können, als er Vers nach Vers
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