Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
glücklich war ich, als dann erste Anzeichen der Befreiung sichtbar wurden, viel schneller als erwartet. Es war, als würdest Du zum erstenmal zu einem eigenen Leben erwachen. Im ersten Jahr kamst Du oft herüber ins blaue Haus, und Fátima befürchtete, Du würdest Dich an mich, an uns klammern. Doch nein: Jetzt, wo das bisherige Gerüst Deines Lebens eingestürzt war, das auch über das innere Kräftespiel bestimmt hatte, jetzt schienst Du zu entdecken, was Dir durch die viel zu frühe Heirat verbaut worden war: ein eigenes Leben jenseits der Rolle in der Familie. Du begannst, nach Büchern zu fragen, und hast in ihnen geblättert wie eine neugierige Schülerin, ungelenk, unerfahren, aber mit glänzenden Augen. Einmal habe ich Dich, von Dir unbemerkt, in der Buchhandlung vor einem Regal stehen sehen, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. In diesem Augenblick habe ich Dich geliebt, Mamã, und war versucht, zu Dir zu gehen. Doch das wäre genau das Falsche gewesen: Es hätte Dich zurück in das alte Leben geholt.
36
Gregorius ging im Zimmer von Senhor Cortês auf und ab und nannte alle Dinge bei ihrem berndeutschen Namen. Dann ging er durch die dunklen, kalten Gänge des Liceu und tat dasselbe mit allem, was er dort sah. Er sprach laut und wütend vor sich hin, die kehligen Worte hallten durchs Haus, und ein verwunderter Beobachter hätte geurteilt, daß sich da einer in das verlassene Gebäude verirrt habe, der an etwas gründlich irre geworden sei.
Begonnen hatte es morgens in der Sprachschule. Plötzlich hatte er im Portugiesischen die einfachsten Dinge nicht mehr gewußt, Dinge, die er schon von der ersten Lektion auf der ersten Platte des Sprachkurses kannte, die er vor seiner Abreise gehört hatte. Cecília, die wegen eines Migräneanfalls verspätet erschien, setzte zu einer ironischen Bemerkung an, hielt inne, kniff die Augen zu und machte dann eine beruhigende Handbewegung.
» Sossega «, sagte sie, »beruhigen Sie sich. Das passiert allen, die eine fremde Sprache lernen. Plötzlich geht nichts mehr. Das geht vorbei. Morgen sind Sie wieder ganz auf der Höhe.«
Dann hatte beim Persischen das Gedächtnis gestreikt, ein Sprachgedächtnis, auf das er sich sonst immer hatte verlassen können. In heller Panik hatte er sich Verse von Horaz und Sappho vorgesagt, hatte seltene homerische Wörter aufgerufen und hektisch in Salomos Hohelied geblättert. Alles kam wie gewohnt, nichts fehlte, es gab keine Abgründe von plötzlichem Gedächtnisverlust. Und doch fühlte er sich wie nach einem Erdbeben. Schwindel. Schwindel und Gedächtnisverlust. Es würde passen.
Still hatte er im Büro des Rektors am Fenster gestanden. Heute gab es keinen Lichtkegel, der durch den Raum wanderte. Es regnete. Auf einmal, ganz plötzlich, war er wütend geworden. Es war eine heftige, heiße Wut, vermischt mit Verzweiflung darüber, daß sie keinen erkennbaren Gegenstand hatte. Nur ganz langsam wurde ihm klar, daß er eine Revolte erlebte, einen Aufstand gegen alle sprachliche Fremdheit, die er sich auferlegt hatte. Zuerst schien er nur dem Portugiesischen zu gelten und vielleicht dem Französischen und Englischen, das er hier sprechen mußte. Allmählich dann und mit Widerstreben gestand er sich ein, daß die Brandung seiner Wut sich auch auf die alten Sprachen bezog, in denen er seit über vierzig Jahren lebte.
Er erschrak, als er die Tiefe seines Aufbegehrens spürte. Der Boden schwankte. Er mußte etwas tun, nach etwas greifen, er schloß die Augen, stellte sich auf den Bubenbergplatz und nannte die Dinge, die er sah, bei ihren berndeutschen Namen. Er redete zu den Dingen und zu sich selbst in langsamen, klaren Sätzen der Mundart. Das Erdbeben verebbte, er spürte wieder festen Boden unter den Füßen. Doch das Erschrecken hatte einen Nachhall, er begegnete ihm mit der Wut von jemandem, den man einer großen Gefahr ausgesetzt hatte, und so kam es, daß er wie ein Irrer durch die Gänge des menschenleeren Gebäudes schritt, als gelte es, die Geister der dunklen Korridore mit berndeutschen Worten zu besiegen.
Zwei Stunden später, als er im Salon von Silveiras Haus saß, kam ihm das Ganze wie ein Spuk vor, wie etwas, das er vielleicht nur geträumt hatte. Beim Lesen von Lateinischem und Griechischem war es wie immer, und als er die portugiesische Grammatik aufschlug, war alles sofort da, und er machte gute Fortschritte bei den Regeln für den Konjunktiv. Nur die Traumbilder erinnerten ihn noch daran, daß etwas in ihm
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