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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ich nicht gewesen wäre, hätten wir sie im Sarg hinaustragen müssen!‹
    Sie operierten Adriana, und danach blieb sie zwei Wochen im Krankenhaus. Amadeu ging täglich hin, stets allein, er wollte nicht mit uns gehen. Adriana war von einer überwältigenden Dankbarkeit erfüllt, die beinahe religiöse Züge hatte. Mit verbundenem Hals lag sie weiß in den Kissen und durchlebte die dramatische Szene stets von neuem. Als ich allein bei ihr war, sprach sie darüber.
    ›Kurz bevor er zustieß, wurden die Zedern vor dem Fenster rot, blutrot‹ sagte sie. ›Dann wurde ich ohnmächtig.‹«
    Sie sei mit der Überzeugung aus dem Krankenhaus gekommen, sagte Mélodie, daß sie ihr Leben dem Bruder widmen müsse, der es ihr gerettet habe. Amadeu war das unheimlich, und er versuchte alles, um ihr den Gedanken auszureden. Für eine Weile schien das gelungen zu sein, sie begegnete einem Franzosen, der sich in sie verliebte, und die dramatische Episode schien in ihr zu verblassen. Doch diese Liebe zerbrach in dem Augenblick, als Adriana schwanger wurde. Und wieder kam Amadeu, um einen Eingriff in ihren Körper zu begleiten. Er opferte dafür seine Reise mit Fátima und kehrte aus England zurück. Sie hatte nach der Schule Arzthelferin gelernt, und als er drei Jahre später die blaue Praxis eröffnete, war es klar, daß sie als seine Assistentin arbeiten würde. Fátima lehnte es ab, sie im Haus wohnen zu lassen. Es gab dramatische Szenen, wenn sie gehen mußte. Nach Fátimas Tod dauerte es keine Woche, und Adriana zog ein. Amadeu war vollständig verstört über den Verlust und unfähig zu Widerstand. Adriana hatte gewonnen.

35
     
    »Manchmal habe ich gedacht, daß Amadeus Geist vor allem Sprache war«, hatte Mélodie gegen Ende des Gesprächs gesagt. »Daß seine Seele aus Wörtern gefertigt war, wie ich das bei niemandem sonst erlebt habe.«
    Gregorius hatte ihr die Aufzeichnung über das Aneurysma gezeigt. Auch sie hatte nichts davon gewußt. Aber es hatte etwas gegeben, an das sie sich jetzt erinnerte.
    »Er zuckte zusammen, wenn jemand Wörter gebrauchte, die mit Vergehen, Verfließen, Verrinnen zu tun hatten, ich erinnere mich vor allem an correr und passar . Er war überhaupt jemand, der auf Wörter so heftig reagierte, als seien sie viel wichtiger als die Sachen. Wenn man meinen Bruder verstehen wollte, war das das Wichtigste, was man wissen mußte. Er sprach von der Diktatur der falschen und der Freiheit der richtigen Wörter, vom unsichtbaren Kerker des Sprachkitschs und dem Licht der Poesie. Er war ein sprachbesessener, ein sprachverhexter Mensch, dem ein falsches Wort mehr ausmachte als ein Messerstich. Und dann plötzlich die heftige Reaktion auf Wörter, die von Flüchtigkeit und Vergänglichkeit handelten. Nach einem seiner Besuche, bei dem er diese neue Schreckhaftigkeit an den Tag legte, rätselten mein Mann und ich die halbe Nacht. ›Nicht diese Wörter, bitte nicht diese Wörter!‹ hatte er gesagt. Wir wagten nicht nachzufragen. Mein Bruder, er konnte wie ein Vulkan sein.«
    Gregorius setzte sich in Silveiras Salon in einen Sessel und begann den Text von Prado zu lesen, den ihm Mélodie mitgegeben hatte.
    »Er hatte panische Angst, er könnte in falsche Hände geraten«, hatte sie gesagt. »›Vielleicht sollte ich ihn besser vernichten‹, sagte er. Doch dann gab er ihn mir zur Aufbewahrung. Ich durfte das Kuvert erst nach seinem Tod öffnen. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen.«
    Prado hatte den Text in den Wintermonaten nach dem Tod der Mutter geschrieben und ihn Mélodie kurz vor Fátimas Tod im Frühjahr gegeben. Es waren drei Textstücke, die auf getrennten Bogen begonnen worden waren und sich auch in der Tintenschattierung unterschieden. Obgleich sie sich zu einem Abschiedsbrief an die Mutter fügten, gab es keine Anrede. Statt dessen trug der Text eine Überschrift wie bei vielen Aufzeichnungen im Buch.
     
    DESPEDIDA FALHADA À MAM Ã . MISSLUNGENER ABSCHIED VON MAMA . Mein Abschied von Dir muß mir mißlingen, Mamã. Du bist nicht mehr da, und ein echter Abschied müßte eine Begegnung sein. Ich habe zu lange gewartet, und das ist natürlich kein Zufall. Was unterscheidet einen ehrlichen von einem feigen Abschied? Ein ehrlicher Abschied von Dir – das wäre der Versuch gewesen, mit Dir zu einem Einverständnis darüber zu gelangen, wie es mit uns, mit Dir und mir, gewesen ist. Denn das ist der Sinn eines Abschieds im vollen, gewichtigen Sinne des Worts: daß sich die beiden Menschen, bevor

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