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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Schönes, sogar Strahlendes, an das er sehr lange nicht mehr gedacht hatte: ihre Würde, mit der sie den Leuten, um deren Dreck sie sich kümmern mußte, auf der Straße begegnet war. Keine Spur von Unterwürfigkeit, ihr Blick war auf der gleichen Höhe gewesen wie der Blick derer, die sie dafür bezahlten, daß sie auf den Knien herumrutschte. Darf sie das? , hatte er sich als kleiner Junge gefragt, um später dann stolz auf sie zu sein, wenn er es wieder einmal beobachten konnte. Wenn es nur nicht die Heimatromane von Ludwig Ganghofer gewesen wären, zu denen sie in den seltenen Stunden des Lesens gegriffen hatte. Jetzt flüchtest auch du dich in die Bücher. Sie war keine Leserin gewesen. Es tat weh, aber sie war keine Leserin gewesen.
    Welche Bank gibt mir denn schon einen Kredit , hörte Gregorius den Vater sagen, und dann für so etwas . Er sah seine große Hand mit den zu kurz geschnittenen Fingernägeln vor sich, als er ihm die dreizehn Franken dreißig für die persische Grammatik Münze für Münze in die Hand gezählt hatte. Bist du sicher, daß du da hinwillst? , hatte er gesagt, das ist doch so weit weg, so weit weg von dem, was wir gewohnt sind. Schon die Buchstaben, sie sind so anders, gar nicht wie Buchstaben. Wir werden dann gar nicht mehr Bescheid wissen über dich. Als Gregorius ihm das Geld zurückgegeben hatte, war ihm der Vater mit der großen Hand übers Haar gefahren, einer Hand, die sich die Zärtlichkeit viel zu selten zugetraut hatte.
    Der Vater von Eva, der Unglaublichen, der alte von Muralt, war Richter gewesen, auf dem Schülerfest hatte er kurz hereingeschaut, ein Hüne von einem Mann. Wie wäre es gewesen, dachte Gregorius, wenn er als Sohn eines strengen, schmerzgeplagten Richters und einer ehrgeizigen Mutter aufgewachsen wäre, die ihr Leben im Leben des vergötterten Sohnes lebte? Hätte er trotzdem Mundus werden können, Mundus, der Papyrus? Konnte man so etwas wissen?
    Als Gregorius aus der kalten Nachtluft ins geheizte Haus zurückkam, wurde ihm schwindlig. Er setzte sich in den Sessel von vorhin und wartete, bis es vorbei war. Verwunderlich ist es nicht, wenn man bedenkt, wieviel sich in der kurzen Zeit in Ihrem Leben verändert hat , hatte Mariana Eça gesagt. Ein Tumor würde ganz andere Ausfälle mit sich bringen. Er verbannte die Stimme der Ärztin aus seinem Kopf und las weiter.
     
    Meine erste große Enttäuschung mit Dir war, daß Du nichts von den Fragen hören wolltest, die mich am Beruf von Papá bedrängten. Ich fragte mich: Hattest Du Dich – als zurückgesetzte Frau im rückständigen Portugal – für unfähig erklärt, darüber nachzudenken? Weil Recht und Gericht Dinge waren, die nur Männer etwas angingen? Oder war es schlimmer: daß Du Papás Arbeit gegenüber einfach ohne Fragen warst und ohne Zweifel? Daß Dich das Schicksal der Menschen von Tarrafal einfach nicht beschäftigte?
    Warum hast Du Papá nicht gezwungen, mit uns zu sprechen, statt nur ein Mahnmal zu sein? Warst Du froh über die Macht, die Dir dadurch zuwuchs? Du warst eine Virtuosin der stummen, ja verleugneten Komplizenschaft mit Deinen Kindern. Und virtuos warst Du auch als diplomatische Vermittlerin zwischen Papá und uns, Du mochtest die Rolle und warst darin nicht ohne Eitelkeit. War das Deine Rache für den geringen Spielraum, den Dir die Ehe ließ? Die Entschädigung für die fehlende gesellschaftliche Anerkennung und die Last von Vaters Schmerzen?
    Warum bist Du bei jedem Widerspruch eingeknickt, den ich Dir entgegensetzte? Warum hast Du mir nicht standgehalten und mich dadurch gelehrt, Konflikte auszuhalten? So daß ich es nicht spielerisch lernen konnte, mit einem Augenzwinkern, sondern mir mühsam erarbeiten mußte wie aus dem Lehrbuch, mit erbitterter Gründlichkeit, die oft genug dazu geführt hat, daß ich das Maß verlor und über das Ziel hinausschoß?
    Warum hast Du mir die Hypothek meiner Bevorzugung aufgeladen? Papá und Du: Warum habt Ihr so wenig von Adriana und Mélodie erwartet? Warum habt Ihr die Demütigung nicht gespürt, die in dem mangelnden Zutrauen lag?
    Doch es wäre ungerecht, Mamã, wenn das alles wäre, was ich Dir zum Abschied sagte. In den sechs Jahren nach Papás Tod nämlich bin ich Dir mit neuen Empfindungen begegnet, und ich war glücklich zu spüren, daß es sie gab. Die Verlorenheit, mit der Du an seinem Grab standest, hat mich zutiefst berührt, und ich war froh, daß es religiöse Gewohnheiten gab, in denen Du Dich aufgehoben fühltest. Richtig

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