Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
sie auseinandergehen, darüber verständigen, wie sie sich gesehen und erlebt haben. Was zwischen ihnen geglückt und was mißlungen ist. Dazu gehört Furchtlosigkeit: Man muß den Schmerz über Dissonanzen aushalten können. Es geht darum, auch das, was unmöglich war, anzuerkennen. Sich verabschieden, das ist auch etwas, das man mit sich selbst macht: zu sich selbst stehen unter dem Blick des Anderen. Die Feigheit eines Abschieds dagegen liegt in der Verklärung: in der Versuchung, das Gewesene in goldenes Licht zu tauchen und das Dunkle wegzulügen. Was man dabei verspielt, ist nichts weniger als die Anerkennung seiner selbst in denjenigen Zügen, die das Dunkel hervorgebracht haben.
Du hast an mir ein Kunststück vollbracht, Mamã, und ich schreibe jetzt auf, was ich Dir vor langer Zeit hätte sagen sollen: Es war ein perfides Kunststück, das mein Leben belastet hat wie nichts anderes. Du hast mich nämlich wissen lassen – und es war am Inhalt dieser Botschaft nicht der geringste Zweifel möglich –, daß Du von mir, Deinem Sohn – Deinem Sohn –, nichts Geringeres als dieses erwartetest: daß er der Beste sei. Worin, das war nicht so wichtig, aber die Leistungen, die ich zu erbringen hatte, sie mußten die Leistungen aller anderen übertreffen, und nicht nur irgendwie übertreffen, sondern turmhoch überragen. Die Perfidie: Das hast Du mir nie gesagt. Deine Erwartung gelangte nie zu einer Ausdrücklichkeit, die mir erlaubt hätte, dazu Stellung zu beziehen, darüber nachzudenken und mich mit den Gefühlen daran zu reiben. Und doch wußte ich es, denn das gibt es: ein Wissen, das man einem wehrlosen Kind einträufelt, Tropfen für Tropfen, Tag für Tag, ohne daß es dieses lautlos anwachsende Wissen im geringsten bemerkt. Das unscheinbare Wissen breitet sich in ihm aus wie ein tückisches Gift, sickert in das Gewebe von Leib und Seele und bestimmt über die Farbe und Schattierung seines Lebens. Aus diesem unerkannt wirkenden Wissen, dessen Macht in seiner Verborgenheit lag, entstand in mir ein unsichtbares, unentdeckbares Gespinst aus unbeugsamen, gnadenlosen Erwartungen an mich selbst, gewoben von den grausamen Spinnen eines angstgeborenen Ehrgeizes. Wie oft, wie verzweifelt und in welch grotesker Komik habe ich später in mir um mich geschlagen, um mich zu befreien – nur um mich noch mehr zu verfangen! Es war unmöglich, mich gegen Deine Anwesenheit in mir zur Wehr zu setzen: Zu vollkommen war Dein Kunststück, zu fehlerlos, ein Meisterwerk von überwältigender, atemberaubender Perfektion.
Zu seiner Vollkommenheit gehörte, daß Du Deine erstickenden Erwartungen nicht nur unausgesprochen ließest, sondern unter Worten und Gesten verstecktest, die das Gegenteil zum Ausdruck brachten. Ich sage nicht: Das war ein bewußter, abgefeimter, heimtückischer Plan. Nein, Du hast Deinen trügerischen Worten selbst Glauben geschenkt und warst ein Opfer der Maskierung, deren Intelligenz die Deine bei weitem übertraf. Seither weiß ich, wie Menschen bis in ihre tiefsten Tiefen hinein miteinander verschränkt und ineinander gegenwärtig sein können, ohne davon die geringste Ahnung zu haben.
Und noch etwas gehörte zu der kunstvollen Art und Weise, in der Du mich – als frevelhafte Bildhauerin einer fremden Seele – nach Deinem Willen geschaffen hast: die Vornamen, die Du mir gabst. Amadeu Inácio . Die meisten Leute denken sich nichts dabei, ab und zu sagt jemand etwas über die Melodie. Doch ich weiß es besser, denn ich habe den Klang Deiner Stimme dabei im Ohr, ein Klang, der voll von eitler Andacht war. Ich sollte ein Genie sein. Ich sollte göttliche Leichtigkeit besitzen. Und gleichzeitig – gleichzeitig! – sollte ich die mörderische Strenge des heiligen Ignacio verkörpern und seine Fähigkeiten als priesterlicher Feldherr ausüben.
Es ist ein böses Wort, aber es trifft die Sache wie kein anderes: Mein Leben wurde bestimmt von einer Muttervergiftung.
Gab es auch in ihm eine verborgene, lebensbestimmende Anwesenheit der Eltern, maskiert vielleicht und ins Gegenteil verkehrt?, fragte sich Gregorius, als er durch die stillen Straßen von Belém ging. Er sah das schmale Buch vor sich, in dem die Mutter aufschrieb, was sie durch Putzen verdiente. Die schäbige Brille mit dem Kassengestell und den ewig verschmutzten Gläsern, über die hinweg sie ihn müde anblickte. Wenn ich nur noch einmal das Meer sehen könnte, aber das können wir uns einfach nicht leisten. Es hatte etwas an ihr gegeben, etwas
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