Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
aufgebrochen war.
Als er im Sessel für einen Moment einnickte, saß er als einziger Schüler in einem riesigen Klassenzimmer und wehrte sich mit mundartlichen Sätzen gegen fremdsprachliche Fragen und Aufforderungen, die jemand, den er nicht sehen konnte, von vorne an ihn richtete. Er wachte mit feuchtem Hemd auf, duschte und machte sich dann auf den Weg zu Adriana.
Clotilde hatte berichtet, daß Adriana sich verändere, seit mit der tickenden Uhr im Salon Zeit und Gegenwart ins blaue Haus zurückgekehrt seien. Gregorius hatte sie in der Straßenbahn getroffen, als er vom Liceu kam.
»Es kommt vor«, hatte sie gesagt und die Worte geduldig wiederholt, wenn er nicht verstand, »daß sie vor der Uhr stehenbleibt, als wolle sie sie wieder anhalten. Doch dann geht sie doch weiter, und ihr Gang ist rascher und bestimmter geworden. Sie steht früher auf. Es ist, als ob sie den Tag nicht mehr nur… ja, nicht mehr nur erdulden würde.«
Sie aß mehr, und einmal hatte sie Clotilde gebeten, einen Spaziergang mit ihr zu machen.
Als die Tür des blauen Hauses dann aufging, erlebte Gregorius eine Überraschung. Adriana trug nicht Schwarz. Nur das schwarze Band über der Narbe am Hals war geblieben. Rock und Jacke waren aus hellem Grau mit feinen blauen Streifen, und sie hatte eine leuchtend weiße Bluse angezogen. Die Andeutung eines Lächelns zeigte, daß sie die Verblüffung auf Gregorius’ Gesicht genoß.
Er gab ihr die Briefe an Vater und Sohn zurück.
»Ist es nicht verrückt?« sagte sie. »Diese Sprachlosigkeit. Éducation sentimentale , pflegte Amadeu zu sagen, müßte uns vor allem in die Kunst einweihen, Gefühle zu offenbaren, und in die Erfahrung, daß die Gefühle durch die Worte reicher werden. Wie wenig ihm das bei Papá gelang!« Sie sah zu Boden. »Und wie wenig bei mir!«
Er würde gerne die Notizen auf den Zetteln über Amadeus Pult lesen, sagte Gregorius. Als sie das Zimmer im Dachgeschoß betraten, erlebte Gregorius die nächste Überraschung: Der Schreibtischstuhl stand nicht mehr schräg zum Pult. Nach dreißig Jahren war es Adriana gelungen, ihn aus der erstarrten Vergangenheit herauszulösen und geradezurücken, so daß es nicht mehr war, als sei der Bruder gerade eben von ihm aufgestanden. Als er sie ansah, stand sie mit gesenktem Blick da, die Hände in den Jackentaschen, eine ergebene alte Frau, die zugleich wie ein Schulmädchen war, das eine schwierige Aufgabe gelöst hat und in verschämtem Stolz auf Lob wartet. Gregorius legte ihr einen Moment lang die Hand auf die Schulter.
Die blaue Porzellantasse auf dem kupfernen Tablett war abgewaschen, der Aschenbecher leer. Nur der Kandiszucker war noch in der Zuckerdose. Die uralte Füllfeder hatte Adriana zugeschraubt, und jetzt machte sie die Schreibtischlampe mit dem smaragdgrünen Schirm an. Sie schob den Schreibtischstuhl zurück und lud Gregorius mit einer Bewegung der Hand, in der ein letztes Zögern zu erkennen war, ein, sich zu setzen.
Das riesige, in der Mitte aufgeschlagene Buch von früher lag immer noch auf dem Leseaufsatz, und auch der Blätterstoß lag noch da. Nach einem fragenden Blick zu Adriana hob er das Buch an, um Autor und Titel erkennen zu können. JO Ã O DE LOUSADA DE LEDESMA, O MAR TENEBROSO , das finstere, furchterregende Meer. Große, kalligraphische Schrifttypen, Kupferstiche von Küsten, Tuschzeichnungen von Seefahrern. Wieder sah Gregorius Adriana an.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie, »ich weiß nicht, warum ihn das plötzlich interessierte, aber er war ganz versessen auf Bücher, die sich mit der Furcht beschäftigten, die die Leute im Mittelalter empfanden, wenn sie am westlichsten Punkt Europas zu stehen glaubten und sich fragten, was jenseits des endlos scheinenden Meeres sein mochte.«
Gregorius zog das Buch zu sich heran und las ein spanisches Zitat: Más allá no hay nada más que las aguas del mar, cuyo término nadie más que Dios conoce. Jenseits davon gibt es nichts mehr außer den Wassern der See, deren Grenze niemand außer Gott kennt.
»Cabo Finisterre«, sagte Adriana, »oben in Galicien. Der westlichste Punkt Spaniens. Davon war er besessen. Das Ende der damaligen Welt. ›Aber bei uns in Portugal gibt es doch einen Punkt, der noch weiter westlich liegt, warum also Spanien‹, sagte ich und zeigte es ihm auf der Karte. Doch er wollte nichts davon hören und sprach immer wieder von Finisterre, es war wie eine idée fixe . Er hatte einen gehetzten, fiebrigen Ausdruck im Gesicht, wenn er davon
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