Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
über seine Gedanken und Gefühle sprechen, sogar über seine Träume. Doch dann kam er von diesem Treffen nach Hause, das war zwei Jahre vor seinem Tod, im Dezember würde er einundfünfzig werden. Es war eines dieser Treffen, wo auch João war, João irgendwas. Der Mann, der ihm nicht guttat. Jorge war auch da, glaube ich, Jorge O’Kelly, sein heiliger Freund. Ich wünschte, er wäre nicht zu diesen Treffen gegangen. Sie taten ihm nicht gut.«
»Dort trafen sich die Leute vom Widerstand«, sagte Gregorius. »Amadeu arbeitete für den Widerstand, das müssen Sie doch gewußt haben. Er wollte etwas tun, etwas tun gegen Leute wie Mendes.«
» Resistência «, sagte Adriana, und dann noch einmal: » Resistência «. Sie sprach das Wort aus, als habe sie von der Sache noch nie etwas gehört und weigere sich zu glauben, daß es so etwas geben könne.
Gregorius verfluchte sein Bedürfnis, sie zur Anerkennung der Wirklichkeit zu zwingen, denn für einen Moment sah es so aus, als würde sie verstummen. Doch dann erlosch die Verärgerung auf ihrem Gesicht, und sie war wieder beim Bruder, der in der Nacht von einem unseligen Treffen zurückgekommen war.
»Er hatte nicht geschlafen und trug noch die Kleider vom Vorabend, als ich ihn morgens in der Küche traf. Ich wußte ja, wie er war, wenn er nicht geschlafen hatte. Doch dieses Mal war es anders. Er wirkte nicht gequält wie sonst, trotz der Ringe unter den Augen. Und er tat etwas, das er sonst nie tat: Er hatte den Stuhl nach hinten gekippt und schaukelte. Später, als ich darüber nachdachte, sagte ich zu mir: Es ist, als sei er zu einer Reise aufgebrochen. In der Praxis war er unerhört leicht und schnell in allem, die Dinge gelangen ihm wie von selbst, und er traf den Korb für die verbrauchten Sachen jedesmal, wenn er warf.
Verliebt, werden Sie vielleicht denken, waren das nicht klare Anzeichen, daß er verliebt war? Natürlich habe auch ich daran gedacht. Aber bei einem dieser Treffen, die doch Männertreffen waren? Und dann war es so anders als damals bei Fátima. Wilder, ausgelassener, gieriger. Ganz ohne Rahmen, sozusagen. Es machte mir Angst. Er wurde mir fremd. Besonders, nachdem ich sie gesehen hatte. Schon als sie das Wartezimmer betrat, spürte ich, daß sie nicht einfach eine Patientin war. Anfang, Mitte zwanzig. Eine merkwürdige Mischung aus unschuldigem Mädchen und Vamp. Glitzernde Augen, asiatischer Teint, wiegender Gang. Die Männer im Wartezimmer blickten sie verstohlen an, die Augen der Frauen verengten sich.
Ich führte sie ins Sprechzimmer. Amadeu wusch sich gerade die Hände. Er drehte sich um, und es war, als hätte ihn der Blitz getroffen. Das Blut schoß ihm ins Gesicht. Dann hatte er sich unter Kontrolle.
»Adriana, das ist Estefânia«, sagte er, »würdest du uns bitte einen Moment allein lassen, wir haben etwas zu besprechen.«
Das war noch nie vorgekommen. Es hatte in diesem Raum nichts gegeben, was ich nicht hätte hören dürfen. Nichts .
Sie kam wieder, vier- oder fünfmal. Immer schickte er mich hinaus, sprach mit ihr und geleitete sie dann zur Tür. Jedesmal war sein Gesicht gerötet, und für den Rest des Tages war er fahrig und spritzte schlecht, er, den sie wegen seiner sicheren Hand vergötterten. Beim letzten Mal kam sie nicht in die Praxis, sondern klingelte hier oben, es ging schon auf Mitternacht. Er nahm den Mantel und ging nach unten. Ich sah die beiden um die Ecke biegen, er redete heftig auf sie ein. Nach einer Stunde kam er mit zerzaustem Haar zurück und roch.
Danach blieb sie weg. Amadeu hatte Absencen. Als ob eine verborgene Kraft ihn in die Tiefe söge. Er war gereizt und manchmal grob, auch zu Patienten. Es war das erste Mal, daß ich dachte: Er mag den Beruf nicht mehr, er macht ihn nicht mehr gut, er möchte davonlaufen.
Einmal begegneten mir Jorge und das Mädchen. Er hatte sie um die Taille gefaßt, ihr schien das unangenehm zu sein. Ich war verwirrt, Jorge tat, als erkenne er mich nicht und zog das Mädchen in eine Nebengasse. Die Versuchung war groß, es Amadeu zu erzählen. Ich tat es nicht. Er litt. Einmal, an einem besonders schlimmen Abend, bat er mich, die Goldberg-Variationen von Bach zu spielen. Er saß mit geschlossenen Augen dabei, und ich war vollkommen sicher, daß er an sie dachte.
Die Schachpartien mit Jorge, die zum Rhythmus von Amadeus Leben gehört hatten, fielen aus. Den ganzen Winter über kam Jorge kein einziges Mal zu uns, auch an den Weihnachtstagen nicht. Amadeu sprach nicht von
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