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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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sprach.«
    SOLID Ã O, EINSAMKEIT , stand oben auf dem Blatt, an dem Prado zuletzt geschrieben hatte. Adriana war dem Blick von Gregorius gefolgt.
    »Er klagte in seinem letzten Jahr oft darüber, daß er nicht verstehe, worin sie eigentlich bestehe, die Einsamkeit, die wir alle so sehr fürchteten. Was ist es bloß, was wir Einsamkeit nennen , sagte er, es kann nicht einfach die Abwesenheit der anderen sein, man kann allein sein und überhaupt nicht einsam, und man kann unter Leuten sein und doch einsam, was also ist es? Es hat ihn stets von neuem beschäftigt, daß wir mitten im Trubel einsam sein können. Gut, sagte er, es geht nicht nur darum, daß andere da sind, daß sie den Raum neben uns ausfüllen. Doch auch wenn sie uns feiern oder in einem freundschaftlichen Gespräch einen Rat geben, einen klugen, einfühlsamen Rat: Selbst dann kann es sein, daß wir einsam sind. Einsamkeit ist also nicht etwas, das einfach mit der Anwesenheit der anderen zu tun hat, und auch nicht mit dem, was sie tun. Womit dann? Womit dann, um alles in der Welt?
    Über Fátima und seine Gefühle für sie sprach er mit mir nicht, Intimität ist unser letztes Heiligtum , pflegte er zu sagen. Ein einziges Mal nur hat er sich zu einer Bemerkung hinreißen lassen. Ich liege neben ihr, ich höre ihren Atem, ich spüre ihre Wärme – und bin schrecklich einsam, sagte er. Was ist es bloß? WAS? «
    Solidão por proscrição , Einsamkeit durch Ächtung , hatte Prado notiert. Wenn uns die anderen Zuneigung, Achtung und Anerkennung entziehen: Warum können wir nicht einfach zu ihnen sagen: ›Ich brauche das alles nicht, ich genüge mir selbst‹? Ist es nicht eine schreckliche Form von Unfreiheit, daß wir das nicht können? Macht es uns nicht zu Sklaven der anderen? Welche Empfindungen kann man dagegen aufbieten als Damm, als Schutzwall? Von welcher Art muß die innere Festigkeit sein?
    Gregorius beugte sich nach vorn über den Schreibtisch und las die ausgeblichenen Worte auf den Zetteln an der Wand.
    Erpressung durch Vertrauen. »Die Patienten vertrauten ihm die intimsten Dinge an, und auch die gefährlichsten«, sagte Adriana. »Politisch gefährlich, meine ich. Und dann erwarteten sie, daß auch er etwas preisgab. Damit sie sich nicht nackt zu fühlen brauchten. Er haßte das. Er haßte es aus tiefstem Herzen. Ich will nicht, daß irgend jemand irgend etwas von mir erwartet, sagte er dann und stampfte mit dem Fuß auf. Und warum zum Teufel fällt es mir so schwer, mich abzugrenzen? ›Mamã‹, war ich versucht zu sagen, ›Mamã‹. Doch ich sagte es nicht. Er wußte es selbst.«
    Die gefährliche Tugend der Geduld. » Paciência : Er entwickelte in den letzten Jahren seines Lebens eine wahre Allergie gegen dieses Wort, sein Gesicht verfinsterte sich schlagartig, wenn ihm jemand mit Geduld kam. Nichts weiter als eine abgesegnete Art, sich zu verfehlen, sagte er gereizt. Angst vor den Fontänen, die in uns hochschießen könnten. So richtig verstand ich das erst, als ich von dem Aneurysma erfuhr.«
    Auf dem letzten Zettel stand mehr als auf den anderen. Wenn die Brandung der Seele unverfügbar ist und mächtiger als wir: Warum dann Lob und Tadel? Warum nicht einfach: »Glück gehabt«, »Pech gehabt«? Und sie ist mächtiger als wir, diese Brandung; sie ist es immer .
    »Früher, da war die ganze Wand übersät mit Zetteln«, sagte Adriana. »Ständig schrieb er etwas auf und heftete es an die Wand. Bis zu jener unseligen Reise nach Spanien, anderthalb Jahre vor seinem Tod. Danach griff er nur noch selten zur Feder, oft saß er hier am Pult und starrte einfach nur vor sich hin.«
    Gregorius wartete. Ab und zu warf er einen Blick zu ihr hinüber. Sie saß im Lesesessel neben den Bergen von Büchern auf dem Boden, die sie nicht verändert hatte, immer noch gab es auf dem einen Stapel das große Buch mit der Abbildung des Gehirns. Sie verschränkte die Hände mit den dunklen Venen, löste sie, verschränkte sie wieder. In ihrem Gesicht arbeitete es. Der Widerstand gegen das Erinnern schien die Oberhand zu gewinnen.
    Er würde gern auch über diese Zeit etwas erfahren, sagte Gregorius. »Um ihn noch besser zu verstehen.«
    »Ich weiß nicht«, sagte sie und verfiel danach wieder in Schweigen. Als sie von neuem zu sprechen begann, schienen die Worte aus weiter Ferne zu kommen.
    »Ich dachte, ihn zu kennen. Ja, ich hätte gesagt: Ich kenne ihn, ich kenne ihn in- und auswendig, schließlich sah ich ihn seit vielen Jahren jeden Tag und hörte ihn

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