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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Schläfen‚ ›der Körper ist eben auch der Geist.‹
    Doch als ich ihn heimlich beobachtete, sah ich die Angst, er muß an das Aneurysma gedacht haben. Er bat mich, die Musik von Berlioz aufzulegen, Fátimas Musik.
    ›Abstellen!‹ schrie er nach wenigen Takten. ›Sofort abstellen!‹
    Vielleicht waren es die Kopfschmerzen, vielleicht spürte er aber auch, daß er nach dem Mädchen nicht ohne weiteres zu Fátima zurückkehren konnte.
    Dann erwischten sie João, wir erfuhren es durch einen Patienten. Amadeus Kopfschmerzen wurden so heftig, daß er hier oben wie ein Verrückter auf und ab ging, beide Hände am Kopf. Im einen Auge war ein Äderchen geplatzt, das Blut färbte das Auge tiefrot, er sah schrecklich aus, verzweifelt und auch ein bißchen verroht. Ob ich nicht Jorge holen solle, fragte ich in meiner Ratlosigkeit.
    ›Untersteh dich!‹ schrie er.
    Er und Jorge trafen sich erst ein Jahr später wieder, wenige Monate vor Amadeus Tod. In diesem Jahr veränderte sich Amadeu. Nach zwei, drei Wochen verschwanden das Fieber und die Kopfschmerzen. Sie ließen meinen Bruder als einen Mann zurück, über den sich eine tiefe Melancholie senkte. Melancolia – er liebte das Wort schon als kleiner Junge, und später las er Bücher darüber. Im einen stand, daß es sich um eine typisch neuzeitliche Erfahrung handle. ›Dummes Zeug!‹ schimpfte er. Er hielt Melancholie für eine zeitlose Erfahrung und war der Meinung, daß sie etwas vom Kostbarsten sei, was Menschen kennten.
    ›Weil sich in ihr die ganze Zerbrechlichkeit des Menschen zeigt‹, sagte er.
    Es war nicht ungefährlich. Natürlich wußte er, daß Melancholie und krankhafte Schwermut nicht dasselbe sind. Doch wenn er einen schwermütigen Patienten vor sich hatte, zögerte er manchmal viel zu lange, bevor er ihn in die Psychiatrie schickte. Er redete mit ihm, als ginge es um Melancholie, und er neigte dazu, den Zustand solcher Leute zu verklären und sie durch seine merkwürdige Begeisterung für ihr Leiden vor den Kopf zu stoßen. Nach der Reise mit dem Mädchen verstärkte sich das, und manchmal grenzte es an grobe Fahrlässigkeit.
    In seinen körperlichen Diagnosen blieb er bis zuletzt treffsicher. Aber er war ein gezeichneter Mann, und wenn er es mit einem persönlich schwierigen Patienten zu tun hatte, war er der Sache manchmal nicht mehr gewachsen. Frauen gegenüber war er mit einemmal befangen und schickte sie schneller als früher zu Spezialisten.
    Was immer auf jener Reise geschehen ist: Es hat ihn verstört wie nichts anderes zuvor, mehr noch als Fátimas Tod. Es war, als habe sich ein tektonisches Beben ereignet und die tiefsten Gesteinsschichten seiner Seele verschoben. Alles, was auf diesen Schichten aufruhte, war wacklig geworden und geriet beim leisesten Windstoß ins Wanken. Die ganze Atmosphäre im Haus veränderte sich. Ich mußte ihn abschirmen und beschützen, als lebten wir in einem Sanatorium. Es war schrecklich.«
    Adriana wischte sich eine Träne aus den Augen.
    »Und wunderbar. Er gehörte… er gehörte wieder mir. Oder hätte mir gehört, wenn nicht Jorge eines Abends vor der Tür gestanden hätte.«
    O’Kelly brachte ein Schachbrett mit geschnitzten Figuren aus Bali mit.
    »›Es ist lange her, daß wir gespielt haben‹«, sagte er. »›Zu lange. Viel zu lange.‹«
    Die ersten Male, wo sie spielten, wurde wenig gesprochen. Adriana brachte Tee.
    »Es war ein angestrengtes Schweigen«, sagte sie. »Nicht feindselig, aber angestrengt. Sie suchten sich. Suchten in sich nach einer Möglichkeit, wieder Freunde zu sein.«
    Ab und zu versuchten sie es mit einem Scherz oder einer Redewendung aus der Schulzeit. Es mißlang, das Lachen erstarb, noch bevor es den Weg auf die Gesichter gefunden hatte. Einen Monat vor Prados Tod gingen sie nach dem Schach hinunter in die Praxis. Es wurde ein Gespräch, das bis tief in die Nacht dauerte. Adriana stand die ganze Zeit unter der offenen Wohnungstür.
    »Die Tür zur Praxis ging, sie kamen heraus. Amadeu machte kein Licht, und das Licht aus der Praxistür erhellte den Flur nur schwach. Sie gingen langsam, fast wie in Zeitlupe. Der Abstand, den sie zueinander hielten, schien mir unnatürlich groß. Dann war es soweit, sie standen vor der Haustür.
    ›Also‹, sagte Amadeu.
    ›Ja‹, sagte Jorge.
    Und dann fielen… ja, dann fielen sie ineinander, ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken soll. Es muß so gewesen sein, daß sie einander umarmen wollten, ein letztes Mal, doch dann schien

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