Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
zahlreich und zu gewaltig, als daß unsere Gefühle sie unbeschadet überstehen könnten, hatte er schon während des Studiums in Coimbra gesagt. Er hatte es ausgerechnet zu Jorge gesagt.
Nun hatte sich seine hellsichtige Vorhersage bewahrheitet, und er war im Frost unerträglicher Isolation zurückgeblieben, gegen die auch die Fürsorge der Schwester nichts vermochte. Die Loyalität, die er als Rettungsanker gegen die Gezeiten der Gefühle betrachtet hatte – auch sie hatte sich als zerbrechlich erwiesen. Er war nie mehr zu den Treffen des Widerstands gegangen, hatte Adriana erzählt. Nur João Eça besuchte er im Gefängnis. Die Erlaubnis dazu war das einzige Zeichen der Dankbarkeit, das er von Mendes entgegennahm. Seine Hände, Adriana , sagte er, wenn er zurückkam, seine Hände. Sie haben einmal Schubert gespielt.
Er hatte ihr verboten, die Praxis zu lüften, um den Rauch von Jorges letztem Besuch zu verscheuchen. Die Patienten beklagten sich. Die Fenster blieben tagelang zu. Er sog die abgestandene Luft ein wie eine Erinnerungsdroge. Als sich das Lüften nicht mehr vermeiden ließ, saß er zusammengesunken auf einem Stuhl, und es war, als verließe mit dem Rauch auch seine Lebenskraft den Raum.
»Kommen Sie«, hatte Adriana zu Gregorius gesagt, »ich will Ihnen etwas zeigen.«
Sie waren hinunter in die Praxis gegangen. In einer Ecke des Fußbodens lag ein kleiner Teppich. Adriana schob ihn mit dem Fuß zur Seite. Der Mörtel war aufgebrochen und eine der großen Kacheln herausgelöst worden. Adriana war auf die Knie gegangen und hatte die Kachel herausgehoben. Darunter war eine Vertiefung in den Boden gemeißelt worden, in der ein zusammengeklapptes Schachbrett und ein Kasten lagen. Adriana machte den Kasten auf und zeigte Gregorius die geschnitzten Schachfiguren.
Gregorius bekam keine Luft mehr, öffnete ein Fenster und sog die kühle Nachtluft ein. Schwindel überkam ihn, und er mußte sich am Fenstergriff festhalten.
»Ich habe ihn dabei überrascht«, sagte Adriana. Sie hatte die Öffnung wieder verschlossen und war neben ihn getreten.
»Flammende Röte überzog sein Gesicht. ›Ich wollte nur…‹, fing er an. ›Kein Grund, dich zu genieren‹, sagte ich. An jenem Abend war er schutzlos und zerbrechlich wie ein kleines Kind. Natürlich sah es aus wie ein Grab für das Schachspiel, für Jorge, für ihre Freundschaft. Doch so hatte er es gar nicht empfunden , fand ich heraus. Es war komplizierter. Und irgendwie auch hoffnungsvoller. Er hatte das Spiel nicht beerdigen wollen. Er wollte es nur über die Grenzen seiner Welt hinausschieben , ohne es zu zerstören, und er wollte die Gewißheit haben, daß er es jederzeit hervorholen konnte. Seine Welt war jetzt eine Welt ohne Jorge. Aber es gab Jorge noch. Es gab ihn noch. ›Jetzt, wo es ihn nicht mehr gibt, ist es, als gäbe es auch mich nicht mehr‹, hatte er früher einmal gesagt.
Danach war er tagelang ohne Selbstbewußtsein und mir gegenüber beinahe servil. ›Ein solcher Kitsch, die Sache mit dem Spiel‹, brachte er schließlich heraus, als ich ihn zur Rede stellte.«
Gregorius hatte an O’Kellys Worte gedacht: Er neigte zu Pathos, er wollte es nicht wahrhaben, aber er wußte es, und deshalb zog er gegen Kitsch zu Felde, wo immer es eine Gelegenheit gab, und dabei konnte er ungerecht werden, schrecklich ungerecht.
Jetzt, in Silveiras Salon, las er noch einmal die Aufzeichnung über Kitsch in Prados Buch:
Kitsch ist das tückischste aller Gefängnisse. Die Gitterstäbe sind mit dem Gold vereinfachter, unwirklicher Gefühle verkleidet, so daß man sie für die Säulen eines Palastes hält.
Adriana hatte ihm einen Stoß von Blättern mitgegeben, einen der Stöße aus Prados Schreibtisch, zwischen Kartondeckel gepreßt und mit rotem Band verschnürt. ›Das sind Dinge, die nicht im Buch sind. Von ihnen soll die Welt nichts wissen‹, hatte sie gesagt.
Gregorius löste das Band, schlug den Deckel zurück und las:
Jorges Schachspiel. Die Art, wie er es mir reichte. Das kann nur er. Ich kenne niemanden, der so zwingend sein kann. Ein Zwingen, das ich um nichts in der Welt missen möchte. Wie seine zwingenden Züge auf dem Brett. Was wollte er gutmachen? Ist es überhaupt richtig zu sagen: Er wollte etwas gutmachen? Er hat nicht gesagt: ›Du hast mich damals wegen Estefânia mißverstanden.‹ Er hat gesagt: ›Ich dachte damals, wir könnten über alles reden, über alles, was uns durch den Kopf ging. So hatten wir es doch immer
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