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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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gehalten, weißt du nicht mehr?‹ Nach diesen Worten habe ich einige Sekunden lang, nur einige wenige Sekunden, gedacht, wir könnten uns wiederfinden. Es war ein heißes, wundervolles Gefühl. Aber es verlosch wieder. Seine riesige Nase, seine Tränensäcke, seine braunen Zähne. Früher war dieses Gesicht in mir gewesen, ein Teil von mir. Jetzt blieb es draußen, fremder als das Gesicht eines Fremden, der nie in mir gewesen war. Es war ein solches Reißen in meiner Brust, ein solches Reißen.
    Warum soll es Kitsch sein, was ich mit dem Spiel gemacht habe? Eigentlich doch eine einfache, echte Geste. Und ich habe sie ganz allein für mich gemacht, nicht für ein Publikum. Wenn einer etwas ganz für sich allein täte, und es sähen ihm, ohne daß er es wüßte, eine Million Menschen zu und lachten in schallender Häme, weil sie es für Kitsch hielten: Wie würden wir urteilen?
     
    Als Gregorius eine Stunde später den Schachclub betrat, war O’Kelly gerade in ein kompliziertes Endspiel verwickelt. Auch Pedro war da, der Mann mit den epileptischen Augen und dem hochgezogenen Rotz, der Gregorius an das verlorene Turnier in Moutier erinnerte. Es gab kein freies Brett.
    »Setzen Sie sich hierher«, sagte O’Kelly und zog einen freien Stuhl zu seinem Tisch.
    Auf dem ganzen Weg zum Club hatte sich Gregorius gefragt, was er sich davon versprach. Was er von O’Kelly wollte. Wo doch klar war, daß er ihn nicht fragen konnte, wie es damals mit Estefânia Espinhosa gewesen war und ob er allen Ernstes bereit gewesen wäre, sie zu opfern. Er hatte die Antwort nicht gefunden, hatte aber auch nicht umdrehen können.
    Jetzt, mit dem Rauch seiner Zigarette im Gesicht, wußte er es plötzlich: Er hatte sich noch einmal vergewissern wollen, wie es war, neben dem Mann zu sitzen, den Prado ein Leben lang in sich getragen hatte, dem Mann, den er, wie Pater Bartolomeu gesagt hatte, gebraucht hatte, um ganz zu sein. Dem Mann, gegen den zu verlieren er genoß und dem er, ohne Dankbarkeit zu erwarten, eine ganze Apotheke geschenkt hatte. Dem Mann, der als erster laut gelacht hatte, als der bellende Hund die peinliche Stille nach der skandalösen Rede durchbrochen hatte.
    »Wollen wir?« fragte O’Kelly, nachdem er das Endspiel gewonnen und sich von seinem Partner verabschiedet hatte.
    So hatte Gregorius noch nie gegen jemanden gespielt. So, daß es nicht um die Partie, sondern um die Gegenwart des anderen gegangen war. Ausschließlich um seine Gegenwart. Um die Frage, wie es gewesen sein mußte, jemand zu sein, dessen Leben von diesem Mann erfüllt war, dessen nikotingelbe Finger mit dem Schwarz unter den Nägeln die Figuren mit gnadenloser Präzision in Stellung brachten.
    »Was ich Ihnen neulich erzählte, über Amadeu und mich, meine ich: Vergessen Sie es.«
    O’Kelly sah Gregorius mit einem Blick an, in dem sich Scheu und die zornige Bereitschaft, alles wegzuwerfen, mischten.
    »Der Wein. Es war alles ganz anders.«
    Gregorius nickte und hoffte, daß sein Respekt jener tiefen und komplizierten Freundschaft gegenüber auf seinem Gesicht zu erkennen war. Prado habe sich ja gefragt, sagte er, ob die Seele überhaupt ein Ort von Tatsachen sei oder ob die vermeintlichen Tatsachen nur die trügerischen Schatten unserer Geschichten seien, die wir über andere und über uns selbst erzählten.
    Ja, sagte O’Kelly, das sei etwas gewesen, das Amadeu sein Leben lang beschäftigt habe. Es gehe doch, habe er gesagt, im Inneren eines Menschen viel komplizierter zu, als unsere schematischen, läppischen Erklärungen uns weismachen wollten. Es ist doch alles viel komplizierter. Es ist in jedem Augenblick viel komplizierter. ›Sie heirateten, weil sie sich liebten und das Leben teilen wollten‹; ›Sie stahl, weil sie Geld brauchte‹; ›Er log, weil er nicht verletzen wollte‹: Was sind das für lächerliche Geschichtchen! Wir sind geschichtete Wesen, Wesen voll von Untiefen, mit einer Seele aus unstetem Quecksilber, mit einem Gemüt, dessen Farbe und Form wechselt wie in einem Kaleidoskop, das unablässig geschüttelt wird.
    Das klinge, habe er, Jorge, eingewandt, als gäbe es doch seelische Tatsachen, nur eben sehr komplizierte.
    Nein, nein, habe Amadeu protestiert, wir könnten unsere Erklärungen bis ins Unendliche verfeinern und würden trotzdem noch falsch liegen. Und das Falsche, das wäre just die Annahme, daß es da Wahrheiten zu entdecken gibt. Die Seele, Jorge, sie ist eine pure Erfindung, unsere genialste Erfindung, und ihre

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