Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
die einmal begonnene Bewegung unmöglich, war aber nicht mehr ganz aufzuhalten, sie stolperten aufeinander zu, suchten sich mit den Händen, unbeholfen wie Blinde, die Köpfe stießen sich an den Schultern des anderen, dann richteten sie sich auf, zuckten zurück und wußten nicht, was sie mit den Armen und Händen machen sollten. Ein, zwei Sekunden schrecklicher Verlegenheit, dann riß Jorge die Tür auf und stürmte hinaus. Die Tür fiel ins Schloß. Amadeu drehte sich zur Wand, lehnte sich mit der Stirn dagegen und begann zu schluchzen. Es waren tiefe, rauhe, beinahe animalische Laute, begleitet von heftigen Zuckungen des ganzen Körpers. Ich weiß noch, daß ich dachte: Wie tief er in ihm gewesen ist, ein Leben lang! Und es bleiben wird, auch nach diesem Abschied. Es war das letzte Mal, daß sie sich getroffen haben.«
Prados Schlaflosigkeit wurde noch schlimmer als sonst. Er klagte über Schwindel und mußte zwischen Patienten Pausen einlegen. Er bat Adriana, die Goldberg-Variationen zu spielen. Zweimal fuhr er hinaus ins Liceu und kam mit einem Gesicht zurück, dem man die vergossenen Tränen ansah. Bei der Beerdigung erfuhr Adriana von Mélodie, daß sie ihn hatte aus der Kirche kommen sehen.
Es gab einige wenige Tage, wo er wieder zur Feder griff. An diesen Tagen aß er nichts. Am Abend vor seinem Tod klagte er über Kopfschmerzen. Adriana blieb bei ihm, bis das Mittel wirkte. Als sie ging, sah es so aus, als würde er einschlafen. Doch als sie um fünf Uhr morgens nach ihm sah, war das Bett leer. Er war auf dem Weg zur geliebten Rua Augusta, wo er eine Stunde später zusammenbrach. Um sechs Uhr dreiundzwanzig wurde Adriana verständigt. Als sie später nach Hause kam, stellte sie die Zeiger zurück und hielt das Pendel an.
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Solidão por proscrição, Einsamkeit durch Ächtung , das war es, was Prado zuletzt beschäftigt hatte. Daß wir auf die Achtung und Zuneigung der anderen angewiesen sind und daß uns das von ihnen abhängig macht. Wie weit war der Weg, den er zurückgelegt hatte! Gregorius saß in Silveiras Salon und las noch einmal die frühere Aufzeichnung über Einsamkeit, die Adriana in das Buch aufgenommen hatte.
SOLID Ã O FURIOSA. WÜTENDE EINSAMKEIT . Ist es so, daß alles, was wir tun, aus Angst vor Einsamkeit getan wird? Ist es deswegen, daß wir auf all die Dinge verzichten, die wir am Ende des Lebens bereuen werden? Ist das der Grund, weshalb wir so selten sagen, was wir denken? Weshalb sonst halten wir an all diesen zerrütteten Ehen, verlogenen Freundschaften, langweiligen Geburtstagsessen fest? Was geschähe, wenn wir all das aufkündigten, der schleichenden Erpressung ein Ende setzten und zu uns selbst stünden? Wenn wir unsere geknechteten Wünsche und die Wut über ihre Versklavung hochgehen ließen wie eine Fontäne? Denn die befürchtete Einsamkeit – worin besteht sie eigentlich? In der Stille ausbleibender Vorhaltungen? In der fehlenden Notwendigkeit, mit angehaltenem Atem über das Minenfeld ehelicher Lügen und freundschaftlicher Halbwahrheiten zu schleichen? In der Freiheit, beim Essen niemanden gegenüberzuhaben? In der Fülle der Zeit, die sich auftut, wenn das Trommelfeuer der Verabredungen verstummt ist? Sind das nicht wundervolle Dinge? Ein paradiesischer Zustand? Weshalb also die Furcht davor? Ist es am Ende eine Furcht, die nur besteht, weil wir ihren Gegenstand nicht durchdacht haben? Eine Furcht, die uns von gedankenlosen Eltern, Lehrern und Priestern eingeredet worden ist? Und warum sind wir eigentlich so sicher, daß uns die anderen nicht beneideten, wenn sie sähen, wie groß unsere Freiheit geworden ist? Und daß sie nicht daraufhin unsere Gesellschaft suchten?
Da hatte er noch nichts gewußt vom eisigen Wind der Ächtung, den er später zweimal zu spüren bekam: als er Mendes rettete und als er Estefânia Espinhosa außer Landes brachte. Diese frühere Aufzeichnung zeigte ihn als den Bilderstürmer, der sich keinen Gedanken verbieten ließ, als einen, der sich nicht gescheut hatte, vor einem Kollegium von Lehrern, zu denen auch Patres gehörten, eine gotteslästerliche Rede zu halten. Damals hatte er aus der Geborgenheit heraus geschrieben, die ihm die Freundschaft mit Jorge gegeben hatte. Diese Geborgenheit, dachte Gregorius, mußte ihm geholfen haben, mit der Spucke fertig zu werden, die ihm vor der aufgebrachten Menge übers Gesicht gelaufen war. Und dann war diese Geborgenheit weggebrochen. Die Zumutungen des Lebens seien einfach zu
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