Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Pläne, ohne daß sie mich ungehindert unter Feuer nehmen können. Ich bin froh, wenn der Zug volle Fahrt aufnimmt und sie entschwinden. Die Wünsche der anderen: Was machen wir mit ihnen, wenn sie uns treffen?
Ich presse die Stirn ans Abteilfenster und konzentriere mich mit aller Macht. Ich möchte einmal, ein einziges Mal, zu fassen bekommen, was draußen geschieht. Es wirklich zu fassen bekommen. So daß es mir nicht gleich wieder entgleitet. Es mißlingt. Es geht alles viel zu schnell, auch wenn der Zug auf offener Strecke hält. Der nächste Eindruck wischt den vorherigen weg. Das Gedächtnis läuft heiß, ich bin atemlos damit beschäftigt, die flüchtigen Bilder des Geschehens nachträglich zusammenzusetzen zur Illusion von etwas Verständlichem. Immer komme ich zu spät, wie schnell das Licht der Aufmerksamkeit den Dingen auch hinterher huscht. Immer ist schon alles vorbei. Immer habe ich das Nachsehen. Nie bin ich dabei . Auch dann nicht, wenn sich des Nachts in der Fensterscheibe das Innere des Abteils spiegelt.
Ich liebe Tunnel. Sie sind das Sinnbild der Hoffnung: Irgendwann wird es wieder hell. Wenn nicht gerade Nacht ist.
Manchmal bekomme ich Besuch im Abteil. Ich weiß nicht, wie das trotz der verriegelten und versiegelten Tür möglich ist, aber es geschieht. Meist kommt der Besuch zur Unzeit. Es sind Leute aus der Gegenwart, oft auch aus der Vergangenheit. Sie kommen und gehen, wie es ihnen paßt, sie sind rücksichtslos und stören mich. Ich muß mit ihnen reden. Es ist alles vorläufig, unverbindlich, dem Vergessen vorbestimmt; Gespräche im Zug eben. Einige Besucher verschwinden spurlos. Andere hinterlassen klebrige und stinkende Spuren, lüften nützt nichts. Dann möchte ich das ganze Mobiliar des Abteils herausreißen und gegen neues tauschen.
Die Reise ist lang. Es gibt Tage, wo ich sie mir endlos wünsche. Es sind seltene, kostbare Tage. Es gibt andere, wo ich froh bin zu wissen, daß es einen letzten Tunnel geben wird, in dem der Zug für immer zum Stillstand kommt.
Als Gregorius aus dem Zug stieg, war es später Nachmittag. Er nahm ein Zimmer in einem Hotel jenseits des Mondego, von wo aus er einen Blick auf die Altstadt auf dem Alcáçova-Hügel hatte. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die majestätischen Gebäude der Universität, die alles überragten, in ein warmes, goldenes Licht. Dort oben, in einer der steilen, engen Gassen, hatten Prado und O’Kelly in einer República , einem der Studentenwohnheime, die aufs Mittelalter zurückgingen, gewohnt.
»Er wollte nicht anders wohnen als die anderen«, hatte Maria João gesagt, »obwohl ihn die Geräusche aus den Nebenzimmern manchmal zur Verzweiflung trieben, das war er nicht gewohnt. Aber der Reichtum der Familie, der aus dem Großgrundbesitz früherer Generationen stammte, lastete manchmal schwer auf ihm. Es gab zwei Wörter, die ihm wie keine anderen die Hitze ins Gesicht trieben: colónia und latifundiário . Er sah dann aus wie einer, der bereit ist zu schießen.
Als ich ihn besuchte, war er betont nachlässig angezogen. Warum er nicht, wie die anderen Medizinstudenten, das gelbe Band der Fakultät trage, fragte ich ihn.
›Du weißt doch, daß ich keine Uniformen mag, schon die Mütze im Liceu war mir doch zuwider‹, sagte er.
Als ich dann zurückmußte und wir am Bahnhof standen, betrat ein Student den Bahnsteig, der das dunkelblaue Band der Literatur trug.
Ich sah Amadeu an. ›Es ist nicht das Band ‹, sagte ich, ›es ist das gelbe Band. Du trügest gerne das blaue Band.‹
›Du weißt doch‹, sagte er, ›daß ich es nicht mag, wenn man mich durchschaut. Komm bald wieder. Bitte.‹
Er hatte eine Art, por favor zu sagen – ich wäre bis ans Ende der Welt gegangen, um es zu hören.«
Die Gasse, wo Prado gewohnt hatte, war leicht zu finden. Gregorius warf einen Blick in den Hausflur des Wohnheims und ging ein paar Stufen nach oben. In Coimbra, als uns die ganze Welt zu gehören schien. So hatte Jorge jene Zeit beschrieben. In diesem Haus also hatten er und Prado aufgeschrieben, was es sein konnte, das lealdade , Loyalität zwischen Menschen, stiftete. Eine Liste, auf der die Liebe gefehlt hatte. Begehren, Wohlgefallen, Geborgenheit . Alles Empfindungen, die früher oder später zerfielen. Loyalität war das einzige, was von Dauer war. Ein Wille, ein Entschluß, eine Parteinahme der Seele . Etwas, das den Zufall von Begegnungen und die Zufälligkeit der Gefühle in eine Notwendigkeit verwandle. Ein Hauch von
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