Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
fiebrigen Ausdruck im Gesicht, wenn er davon sprach.
Gregorius setzte sich in eine Ecke und blätterte, bis er auf die Worte des muselmanischen Geographen El Edrisí aus dem 12. Jahrhundert stieß: Von Santiago aus fuhren wir nach Finisterre, wie die Bauern es nennen, ein Wort, das das Ende der Welt bedeutet. Man sieht nicht weiter als bis zu Himmel und Wasser, und sie sagen, das Meer sei so stürmisch, daß niemand auf ihm habe fahren können, weswegen man denn nicht weiß, was jenseits ist. Sie sagten uns, daß einige, begierig, es zu ergründen, mit ihren Schiffen verschwunden sind und daß keiner jemals zurückgekehrt ist.
Es dauerte, bis der Gedanke in Gregorius Gestalt annahm. Viel später hörte ich, daß sie in Salamanca arbeitete, als Dozentin für Geschichte , hatte João Eça über Estefânia Espinhosa gesagt. Als sie für den Widerstand arbeitete, war sie bei der Post. Nach der Flucht mit Prado war sie in Spanien geblieben. Und hatte Geschichte studiert. Adriana hatte keinen Zusammenhang gesehen zwischen Prados Reise nach Spanien und seinem plötzlichen, fanatischen Interesse an Finisterre. Wie, wenn es da eine Verbindung gab? Wenn er und Estefânia Espinhosa nach Finisterre gefahren waren, weil sie schon immer ein Interesse an der mittelalterlichen Furcht vor dem endlosen, stürmischen Meer gehabt hatte, ein Interesse, das zu ihrem Studium geführt hatte? Wie, wenn es auf dieser Fahrt ans Ende der Welt gewesen war, daß passierte, was Prado derart verstörte und ihn zur Rückkehr bewog?
Doch nein, es war zu abwegig, zu abenteuerlich. Und geradezu irrwitzig war es anzunehmen, daß die Frau auch ein Buch über das furchterregende Meer geschrieben hatte. Damit konnte er doch dem Antiquar wirklich nicht die Zeit stehlen.
»Mal sehen«, sagte der Antiquar. »Derselbe Titel – das ist fast ausgeschlossen. Verstieße gegen die guten akademischen Sitten. Wir probieren es mit dem Namen.«
Estefânia Espinhosa, sagte der Computer, hatte zwei Bücher geschrieben, beide hatten mit den Anfängen der Renaissance zu tun.
»Gar nicht so weit weg, oder?« sagte der Antiquar. »Aber wir kriegen es noch genauer, passen Sie auf«, und er rief die historische Fakultät der Universität von Salamanca auf.
Estefânia Espinhosa hatte ihre eigene Seite, und gleich am Anfang der Veröffentlichungsliste kamen sie: zwei Aufsätze über Finisterre, einer auf portugiesisch, der andere auf spanisch. Der Antiquar grinste.
»Mag das Gerät nicht, aber manchmal…«
Er rief eine spezialisierte Buchhandlung an, und dort hatten sie eines der beiden Bücher.
Bald würde Geschäftsschluß sein. Gregorius, das große Buch über das finstere Meer unter dem Arm, rannte. War auf dem Umschlag ein Bild der Frau? Fast riß er der Verkäuferin das Buch aus der Hand und drehte es um.
Estefânia Espinhosa, geboren 1948 in Lissabon, heute Professorin an der Universität Salamanca für die spanische und italienische Geschichte der frühen Neuzeit. Und ein Portrait, das alles erklärte.
Gregorius kaufte das Buch, und auf dem Weg zum Hotel blieb er alle paar Meter stehen, um das Bild zu betrachten. Sie war nicht nur der Ball, der rote irische Ball im College , hörte er Maria João sagen. Sie war viel mehr als alle roten irischen Bälle zusammen: Er muß gespürt haben, daß sie für ihn die Chance war, ganz zu werden. Als Mann, meine ich. Und auch die Worte von João Eça hätten nicht treffender sein können: Estefânia, glaube ich, war seine Chance, endlich aus dem Gerichtshof hinauszutreten, hinaus auf den freien, heißen Platz des Lebens, und dieses eine Mal ganz nach seinen Wünschen zu leben, nach seiner Leidenschaft, und zum Teufel mit den anderen .
Sie war also vierundzwanzig gewesen, als sie sich vor dem blauen Haus ans Steuer setzte und mit Prado, dem achtundzwanzig Jahre älteren Mann, über die Grenze fuhr, weg von O’Kelly, weg von der Gefahr, hinein in ein neues Leben.
Auf dem Rückweg zum Hotel kam Gregorius an der psychiatrischen Klinik vorbei. Er dachte an Prados Nervenzusammenbruch nach dem Diebstahl. Maria João hatte erzählt, daß er sich auf der Station vor allem für diejenigen Patienten interessierte, die, blind in sich selbst verstrickt, auf und ab gingen und vor sich hinsprachen. Er hatte den Blick für solche Leute auch später beibehalten und war erstaunt, wie viele von ihnen es gab, die auf der Straße, im Bus, auf dem Tejo ihre Wut auf imaginäre Gegner hinausschrien.
»Er wäre nicht Amadeu gewesen, wenn er
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