Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
gesagt, kein einziges Wort. Ich habe all die möglichen Worte in mir… weggeschlossen. Ja, das ist es: Ich habe sie weggeschlossen und die Tür unwiderruflich verriegelt. Damit war ausgeschlossen , daß ich redete, es war nicht mehr verhandelbar . Das hatte eine sonderbare Wirkung: Ich hörte auf, das Foltern als eine Handlung der anderen zu erleben, als ein Tun . Ich saß dort wie ein bloßer Körper, ein Haufen Fleisch, dem die Schmerzen zustießen wie ein Hagelsturm. Ich habe aufgehört, die Folterknechte als Handelnde anzuerkennen. Sie wußten es nicht, aber ich habe sie degradiert , zu Schauplätzen eines blinden Geschehens degradiert. Das hat mir geholfen, aus der Folter eine Agonie zu machen.«
Und wenn sie ihm mit einer Droge die Zunge gelöst hätten?
Das habe er sich oft gefragt, sagte Eça, und er habe davon geträumt. Er sei zum Ergebnis gekommen, daß sie ihn damit hätten zerstören können, aber die Würde hätten sie ihm auf diese Weise nicht nehmen können. Um seine Würde zu verlieren, müsse man sie selbst verspielen .
»Und dann regen Sie sich über ein verschmutztes Bett auf?« sagte Gregorius und schloß das Fenster. »Es ist kalt, und es riecht nicht, überhaupt nicht.«
Eça fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich werde keine Schläuche wollen, keine Pumpe. Nur, damit es ein paar Wochen längert dauert.«
Daß es Dinge gebe, die einer um keinen Preis tun oder zulassen würde: Vielleicht bestehe darin die Würde, sagte Gregorius. Es brauchten nicht moralische Grenzen zu sein, fügte er hinzu. Man könne seine Würde auch auf andere Weise verspielen. Ein Lehrer, der aus Hörigkeit im Variété den krähenden Hahn mache. Speichelleckerei um der Karriere willen. Grenzenloser Opportunismus. Verlogenheit und Konfliktscheu, um eine Ehe zu retten. Solche Dinge.
»Der Bettler?« fragte Eça. »Kann einer in Würde Bettler sein?«
»Vielleicht, wenn es in seiner Geschichte eine Zwangsläufigkeit gibt, etwas Unvermeidliches, für das er nichts kann. Und wenn er dazu steht. Zu sich selbst steht«, sagte Gregorius.
Zu sich selbst stehen – auch das gehöre zur Würde. So könne einer eine öffentliche Zerfetzung würdig überstehen. Galileo. Luther. Aber auch jemand, der sich schuldig gemacht habe und der Versuchung, es zu leugnen, widerstehe. Das also, wozu Politiker unfähig seien. Aufrichtigkeit, der Mut zur Aufrichtigkeit. Vor den anderen und vor sich selbst.
Gregorius hielt inne. Was man dachte, wußte man erst, wenn man es aussprach.
»Es gibt einen Ekel«, sagte Eça, »einen ganz besonderen Ekel, den man empfindet, wenn man jemanden vor sich hat, der sich pausenlos belügt. Vielleicht ist das ein Ekel, der der Würdelosigkeit gilt. Ich saß in der Schule neben einem, der sich die klebrigen Hände an der Hose abzuwischen pflegte, und zwar auf diese besondere Art, ich sehe sie noch heute vor mir: als sei es nicht wahr , daß er sie abwischte. Er wäre gern mein Freund geworden. Es ging nicht. Und nicht wegen der Hose. Er war überhaupt so.«
Auch bei Abschieden und Entschuldigungen gebe es eine Frage der Würde, fügte er hinzu. Amadeu habe manchmal darüber gesprochen. Besonders habe ihn der Unterschied beschäftigt zwischen einem Verzeihen, das dem anderen die Würde lasse, und einem, das sie ihm nehme. Es darf kein Verzeihen sein, das Unterwerfung verlangt, habe er gesagt . Also nicht so wie in der Bibel, wo du dich als Knecht von Gott und Jesus verstehen mußt. Als Knecht! So steht es da!
»Er konnte weiß werden vor Wut«, sagte Eça. »Und oft sprach er danach auch über die Würdelosigkeit, die im neutestamentlichen Verhältnis zum Tod angelegt sei. In Würde zu sterben heißt, in Anerkennung der Tatsache zu sterben, daß es das Ende ist. Und allem Unsterblichkeitskitsch zu widerstehen . Am Himmelfahrtstag war seine Praxis offen, und er arbeitete noch mehr als sonst.«
Gregorius fuhr auf dem Tejo zurück nach Lissabon. Wenn wir verstanden haben, daß wir in allem Tun und Erleben Treibsand sind… Was bedeutete das für die Würde?
42
Am Montag morgen saß Gregorius im Zug und fuhr nach Coimbra, in die Stadt, in der Prado mit der quälenden Frage gelebt hatte, ob das Studium der Medizin nicht vielleicht ein großer Fehler war, weil er darin hauptsächlich dem Wunsch des Vaters folgte und sich in seinem eigentlichen Willen verpaßte. Eines Tages war er ins älteste Warenhaus der Stadt gegangen und hatte Waren gestohlen, die er nicht brauchte. Er, der es sich leisten
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