Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
konnte, seinem Freund Jorge eine komplette Apotheke zu schenken. Gregorius dachte an seinen Brief an den Vater und an die schöne Diebin, Diamantina Esmeralda Ermelinda, der in Prados Phantasie die Rolle zugefallen war, die vom Vater verurteilte Diebin zu rächen.
Bevor er fuhr, hatte er Maria João angerufen und sie nach der Straße gefragt, in der Prado damals gewohnt hatte. Auf ihre besorgte Frage nach seinem Schwindel hatte er ausweichend geantwortet. Heute morgen war ihm noch nicht schwindlig geworden. Aber etwas war anders. Ihm war, als müsse er ein hauchdünnes Luftkissen von sanftestem Widerstand überwinden, um mit den Dingen in Berührung zu kommen. Er hätte die Luftschicht, die es zu durchstoßen galt, wie eine schützende Hülle erleben können, wäre da nicht die aufflackernde Angst gewesen, daß ihm die Welt jenseits davon unaufhaltsam entglitt. Auf dem Bahnsteig in Lissabon war er mit forschem Schritt hin und her gegangen, um sich des steinernen Widerstands zu vergewissern. Es hatte geholfen, und als er im leeren Abteil des Zugs Platz nahm, war er ruhiger.
Prado war diese Strecke zahllose Male gefahren. Maria João hatte am Telefon von seiner Leidenschaft für die Eisenbahn gesprochen, die auch João Eça beschrieben hatte, als er erzählte, wie sein Wissen von diesen Dingen, sein verrückter Eisenbahnpatriotismus , Leuten vom Widerstand das Leben gerettet hatte. Es sei das Stellen einer Weiche gewesen, das ihn besonders fasziniert habe, hatte er berichtet. Maria João hatte etwas anderes hervorgehoben: das Eisenbahnfahren als Flußbett der Einbildungskraft, als eine Bewegung, in der sich die Phantasie verflüssigte und einem Bilder aus verschlossenen Kammern der Seele zuspielte. Das Gespräch mit ihr an diesem Morgen hatte länger gedauert als angenommen, die sonderbare, kostbare Vertrautheit, die entstanden war, als er ihr gestern aus der Bibel vorgelesen hatte, war geblieben. Wieder hörte Gregorius O’Kellys seufzende Worte: Maria, mein Gott, ja, Maria . Es waren gerade mal vierundzwanzig Stunden vergangen, seit sie ihm die Tür geöffnet hatte, und es war ihm bereits vollkommen klar, warum Prado die Gedanken, die er für die gefährlichsten hielt, in ihrer Küche und nirgends sonst aufgeschrieben hatte. Was war es? Ihre Furchtlosigkeit? Der Eindruck, daß man hier eine Frau vor sich hatte, die im Laufe ihres Lebens zu einer inneren Abgegrenztheit und Unabhängigkeit gefunden hatte, von der Prado nur träumen konnte?
Sie hatten am Telefon miteinander geredet, als säßen sie immer noch im Liceu, er an Senhor Cortês’ Schreibtisch, sie im Sessel mit der Decke über den Beinen.
»Er war, was das Reisen anlangte, merkwürdig gespalten«, hatte sie gesagt. »Er wollte fahren, immer weiter, er wollte sich in den Räumen verlieren, die ihm die Phantasie aufschloß. Doch kaum war er weg von Lissabon, überkam ihn das Heimweh, ein fürchterliches Heimweh, man konnte es nicht mitansehen. ›Gut, Lissabon ist ja schön, aber…‹, sagten die Leute zu ihm.
Sie verstanden nicht, daß es eigentlich gar nicht um Lissabon ging, sondern um ihn, Amadeu. Sein Heimweh nämlich war nicht die Sehnsucht nach dem Vertrauten und Geliebten. Es war etwas viel Tieferes, etwas, das ihn in seinem Kern betraf: der Wunsch, zurück hinter die festen, bewährten Dämme im Inneren zu fliehen, die ihn vor der gefährlichen Brandung und den tückischen Unterströmungen seiner Seele schützten. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß die inneren Schutzwälle am meisten Festigkeit besaßen, wenn er in Lissabon war, im Elternhaus, im Liceu, vor allem aber in der blauen Praxis. Blau ist die Farbe meiner Geborgenheit , sagte er.
Daß es um den Schutz vor sich selbst ging, erklärt, warum sein Heimweh stets den Geschmack von Panik und Katastrophe mit sich führte. Wenn es über ihn kam, mußte es ganz schnell gehen, und dann brach er eine Reise von einem Moment zum nächsten ab und floh nach Hause. Wie oft war Fátima enttäuscht, wenn es so kam!«
Maria João hatte gezögert, bevor sie hinzufügte:
»Es ist gut, daß sie nicht verstand, worum es in seinem Heimweh ging. Sonst hätte sie denken müssen: Ich schaffe es offenbar nicht, ihm die Angst vor sich selbst zu nehmen.«
Gregorius schlug Prados Buch auf und las zum wiederholten Male eine Aufzeichnung, die ihm wie keine andere der Schlüssel zu allem anderen zu sein schien.
ESTOU A VIVER EM MIM PR Ó PRIO COMO NUM COMBOIO A ANDAR. ICH WOHNE IN MIR WIE IN EINEM FAHRENDEN
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