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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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sie nicht angesprochen und sich ihre Geschichte angehört hätte. Das war ihnen noch nie passiert, und wenn er den Fehler machte, ihnen die Adresse zu geben, rannten sie ihm am nächsten Tag die Bude ein, so daß Adriana sie hinauswerfen mußte.«
    Im Hotel las Gregorius eine der wenigen Aufzeichnungen aus Prados Buch, die er noch nicht kannte.
     
    O VENENO ARDENTE DO DESGOSTO. DAS GLÜHENDE GIFT DES ÄRGERS . Wenn die anderen uns dazu bringen, daß wir uns über sie ärgern – über ihre Dreistigkeit, Ungerechtigkeit, Rücksichtslosigkeit –, dann üben sie Macht über uns aus, sie wuchern und fressen sich in unsere Seele, denn der Ärger ist wie ein glühendes Gift, das alle milden, noblen und ausgewogenen Empfindungen zersetzt und uns den Schlaf raubt. Schlaflos machen wir Licht und ärgern uns über den Ärger, der sich eingenistet hat wie ein schmarotzender Schädling, der uns aussaugt und entkräftet. Wir sind nicht nur wütend über den Schaden, sondern auch darüber, daß er sich ganz allein in uns entfaltet, denn während wir mit schmerzenden Schläfen auf dem Bettrand sitzen, bleibt der ferne Urheber unberührt von der zersetzenden Kraft des Ärgers, deren Opfer wir sind. Auf der menschenleeren inneren Bühne, in das grelle Licht stummer Wut getaucht, führen wir ganz allein für uns selbst ein Drama auf mit schattenhaften Figuren und schattenhaften Worten, die wir schattenhaften Feinden entgegenschleudern in hilflosem Zorn, den wir als eisig loderndes Feuer im Gedärm spüren. Und je größer unsere Verzweiflung darüber ist, daß es nur ein Schattenspiel ist und keine wirkliche Auseinandersetzung, in der es die Möglichkeit gäbe, dem anderen zu schaden und ein Gleichgewicht des Leids herzustellen, desto wilder tanzen die giftigen Schatten und verfolgen uns bis in die finstersten Katakomben unserer Träume. (Wir werden den Spieß umdrehen, denken wir grimmig, und schmieden nächtelang Worte, die im anderen die Wirkung einer Brandbombe entfalten werden, so daß nun er es sein wird, in dem die Flammen der Empörung wüten, während wir, durch Schadenfreude besänftigt, in heiterer Ruhe unseren Kaffee trinken.)
    Was könnte es heißen, es richtig zu machen mit dem Ärger? Wir möchten ja nicht seelenlose Wesen sein, die ganz und gar unangefochten bleiben durch das, was ihnen begegnet, Wesen, deren Bewertungen sich in kühlen, blutleeren Urteilen erschöpften, ohne daß etwas sie aufzuwühlen vermöchte, weil nichts sie wirklich kümmerte. Und deshalb können wir uns nicht ernsthaft wünschen, die Erfahrung des Ärgers überhaupt nicht zu kennen und statt dessen in einem Gleichmut zu verharren, der von öder Gefühllosigkeit nicht zu unterscheiden wäre. Ärger lehrt uns ja auch etwas darüber, wer wir sind. Wissen möchte ich deshalb dieses: Was könnte es heißen, uns im Ärger so zu erziehen und zu bilden, daß wir uns seine Erkenntnis zunutze machten, ohne seinem Gift zu verfallen?
    Wir können gewiß sein, daß wir auf dem Sterbebett als Teil der letzten Bilanz festhalten werden – und dieser Teil wird bitter schmecken wie Zyanid –, daß wir zuviel, viel zuviel Kraft und Zeit darauf verschwendet haben, uns zu ärgern und es den anderen in einem hilflosen Schattentheater heimzuzahlen, von dem nur wir, die wir es ohnmächtig erlitten, überhaupt etwas wußten. Was können wir tun, um diese Bilanz zu verbessern? Warum haben uns die Eltern, die Lehrer und die anderen Erzieher nie davon gesprochen? Warum haben sie etwas von dieser gewaltigen Bedeutung nicht zur Sprache gebracht? Uns in dieser Sache keinen Kompaß mitgegeben, der uns hätte helfen können, die Verschwendung unserer Seele an unnützen, selbstzerstörerischen Ärger zu vermeiden?
     
    Gregorius lag lange wach. Ab und zu stand er auf und trat ans Fenster. Die Oberstadt mit der Universität und dem Glockenturm sah jetzt, nach Mitternacht, karg, sakral und auch ein bißchen bedrohlich aus. Er konnte sich einen Landvermesser vorstellen, der vergeblich darauf wartete, daß man ihm Einlaß in den geheimnisvollen Bezirk gewähre.
    Den Kopf an einen Berg von Kissen gelehnt, las Gregorius noch einmal die Sätze, in denen Prado sich mehr geöffnet und vor sich selbst offenbart hatte als in allen anderen: Manchmal schrecke ich auf und denke: Der Zug kann jederzeit entgleisen. Ja, meistens erschreckt mich der Gedanke. Doch in seltenen, weißglühenden Momenten durchzuckt er mich wie ein seliger Blitz.
    Er wußte nicht, woher das Bild kam, doch auf

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