Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Ewigkeit, nur ein Hauch , aber immerhin , hatte Prado gesagt. Gregorius sah das Gesicht von O’Kelly vor sich. Er hat sich getäuscht. Wir haben uns beide getäuscht , hatte er mit der Langsamkeit eines Betrunkenen gesagt.
In der Universität wäre Gregorius am liebsten sofort in die Biblioteca Joanina und in die Sala Grande dos Actos gegangen, die Räume, derentwegen Prado immer wieder hierhergefahren war. Doch das war nur zu bestimmten Stunden möglich, und die waren für heute vorbei.
Offen war die Capela de São Miguel . Gregorius war allein und betrachtete die barocke Orgel, die von überwältigender Schönheit war. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik , hatte Prado in seiner Rede gesagt. Gregorius rief sich die Gelegenheiten in Erinnerung, bei denen er in der Kirche gewesen war. Konfirmandenunterricht, die Beerdigung der Eltern. Vater unser… Wie dumpf, freudlos und bieder es geklungen hatte! Und all das, dachte er jetzt, hatte nichts zu tun gehabt mit der ausgreifenden Poesie des griechischen und hebräischen Texts. Nichts, rein gar nichts!
Gregorius fuhr zusammen. Er hatte, ohne es zu wollen, mit der Faust auf die Bank geschlagen und sah sich jetzt verschämt um, doch er war immer noch allein. Er ließ sich auf die Knie nieder und tat, was Prado mit dem gekrümmten Rücken des Vaters getan hatte: Er versuchte sich vorzustellen, wie die Haltung von innen her war. Die müßte man herausreißen , hatte Prado gesagt, als er mit Pater Bartolomeu an Beichtstühlen vorbeigegangen war. Eine solche Demütigung!
Als Gregorius sich aufrichtete, drehte sich die Kapelle in rasender Geschwindigkeit. Er klammerte sich an die Bank und wartete, bis es vorbei war. Dann ging er, während eilige Studenten an ihm vorbeihasteten, langsam die Gänge entlang und betrat einen Hörsaal. In der letzten Reihe sitzend dachte er zunächst an die Vorlesung über Euripides, in der er es damals versäumt hatte, dem Dozenten laut die Meinung zu sagen. Dann glitten seine Gedanken zurück zu den Vorlesungen, die er als Student besucht hatte. Und schließlich stellte er sich den Studenten Prado vor, der sich im Hörsaal erhob und kritische Fragen stellte. Gestandene, mit Preisen ausgezeichnete Professoren, Koryphäen ihres Fachs, fühlten sich von ihm auf den Prüfstand gestellt, hatte Pater Bartolomeu gesagt. Doch Prado hatte hier nicht als arroganter, besserwisserischer Student gesessen. Er hatte in einem Fegefeuer von Zweifeln gelebt, gepeinigt von der Angst, er könnte sich verpassen. Es war in Coimbra, auf einer harten Bank im Hörsaal, als mir bewußt wurde: Ich kann nicht aussteigen.
Es war eine Vorlesung in Rechtswissenschaft, Gregorius verstand kein Wort und ging. Er blieb bis in die Nacht hinein auf dem Gelände der Universität und versuchte stets von neuem, sich über die verwirrenden Empfindungen klar zu werden, die ihn begleiteten. Warum dachte er hier, in der berühmtesten Universität Portugals, auf einmal, daß er vielleicht doch gern in einem Hörsaal gestanden und sein umfassendes philologisches Wissen mit Studenten geteilt hätte? Hatte er vielleicht doch ein mögliches Leben verpaßt, eines, das er mit seinen Fähigkeiten und seinem Wissen mühelos hätte leben können? Niemals zuvor, keine einzige Stunde, hatte er es für einen Fehler gehalten, daß er als Student den Vorlesungen nach wenigen Semestern ferngeblieben war und all seine Zeit der unermüdlichen Lektüre der Texte gewidmet hatte. Warum jetzt auf einmal diese sonderbare Wehmut? Und war es überhaupt Wehmut?
Als das Essen kam, das er in einer kleinen Kneipe bestellt hatte, widerstand es ihm, und er wollte hinaus in die kühle Nachtluft. Das hauchdünne Luftkissen, das ihn heute früh umschlossen hatte, war wieder da, ein bißchen dicker und mit einem Widerstand, der eine Spur stärker war. Wie auf dem Bahnsteig in Lissabon trat er betont fest auf, und das half auch jetzt.
JO Ã O DE LOUSADA DE LEDESMA, O MAR TENEBROSO . Der große Band sprang ihm in die Augen, als er in einem Antiquariat die Bücherwände entlangging. Das Buch auf Prados Schreibtisch. Seine letzte Lektüre. Gregorius nahm es aus dem Regal. Die großen kalligraphischen Schrifttypen, die Kupferstiche von Küsten, die Tuschzeichnungen von Seefahrern. Cabo Finisterre , hörte er Adriana sagen, oben in Galicien. Es war wie eine idée fixe. Er hatte einen gehetzten,
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