Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
ZUG . Ich bin nicht freiwillig eingestiegen, hatte nicht die Wahl und kenne den Zielort nicht. Eines Tages in der fernen Vergangenheit wachte ich in meinem Abteil auf und spürte das Rollen. Es war aufregend, ich lauschte dem Klopfen der Räder, hielt den Kopf in den Fahrtwind und genoß die Geschwindigkeit, mit der die Dinge an mir vorbeizogen. Ich wünschte, der Zug würde seine Fahrt niemals unterbrechen. Auf keinen Fall wollte ich, daß er irgendwo für immer hielte.
Es war in Coimbra, auf einer harten Bank im Hörsaal, als mir bewußt wurde: Ich kann nicht aussteigen. Ich kann das Geleise und die Richtung nicht ändern. Ich bestimme das Tempo nicht. Ich sehe die Lokomotive nicht und kann nicht erkennen, wer sie fährt und ob der Lokführer einen zuverlässigen Eindruck macht. Ich weiß nicht, ob er die Signale richtig liest und es bemerkt, wenn eine Weiche falsch gestellt worden ist. Ich kann das Abteil nicht wechseln. Ich sehe im Gang Leute vorbeigehen und denke: Vielleicht sieht es in ihren Abteilen ganz anders aus als bei mir. Doch ich kann nicht hingehen und nachsehen, ein Schaffner, den ich nie gesehen habe und nie sehen werde, hat die Abteiltür verriegelt und versiegelt. Ich öffne das Fenster, lehne mich weit hinaus und sehe, daß alle anderen dasselbe tun. Der Zug fährt eine sanfte Schleife. Die letzten Wagen sind noch im Tunnel und die ersten schon wieder. Vielleicht fährt der Zug im Kreis, immer wieder, ohne daß jemand es bemerkt, auch der Lokführer nicht? Ich habe keine Ahnung, wie lang der Zug ist. Ich sehe all die anderen, die ihre Hälse recken, um etwas zu sehen und zu verstehen. Ich grüße, doch der Fahrtwind verweht meine Worte.
Die Beleuchtung im Abteil wechselt, ohne daß ich es wäre, der darüber bestimmen könnte. Sonne und Wolken, Dämmerung und wieder Dämmerung. Regen, Schnee, Sturm. Das Licht an der Decke ist trübe, wird heller, ein gleißender Schein, es beginnt zu flackern, geht aus, kommt wieder, es ist eine Funzel, ein Kronleuchter, eine grellfarbige Neonleuchte, alles in einem. Die Heizung ist nicht zuverlässig. Es kann passieren, daß sie bei Hitze heizt und bei Kälte versagt. Wenn ich den Schalter betätige, klickt und klackt es, doch es ändert sich nichts. Sonderbar ist, daß mich auch der Mantel nicht immer gleich wärmt. Draußen, da scheinen die Dinge ihren gewöhnlichen, vernünftigen Lauf zu nehmen. Vielleicht auch im Abteil der anderen? In meinem jedenfalls geht es anders zu, als ich erwartet hätte, ganz anders. War der Konstrukteur betrunken? Ein Irrer? Ein diabolischer Scharlatan?
In den Abteilen liegen Fahrpläne aus. Ich will nachsehen, wo wir halten werden. Die Seiten sind leer. An den Bahnhöfen, wo wir halten, fehlen die Ortsschilder. Die Leute draußen werfen neugierige Blicke auf den Zug. Die Scheiben sind trübe vom häufigen Unwetter. Ich denke: Sie verzerren das Bild vom Inneren. Plötzlich überfällt mich das Bedürfnis, die Dinge richtigzustellen. Das Fenster klemmt. Ich schreie mich heiser. Die anderen klopfen empört an die Wand. Hinter der Station kommt ein Tunnel. Er nimmt mir den Atem. Beim Verlassen des Tunnels frage ich mich, ob wir wirklich angehalten haben.
Was kann man auf der Fahrt tun? Das Abteil aufräumen. Die Dinge befestigen, damit sie nicht scheppern. Doch dann träume ich, daß der Fahrtwind anschwillt und die Scheibe eindrückt. Es fliegt alles weg, was ich mir mühsam zurechtgelegt habe. Überhaupt träume ich viel auf der endlosen Fahrt, es sind Träume von verpaßten Zügen und falschen Angaben im Fahrplan, von Stationen, die sich in nichts auflösen, wenn man einfährt, von Bahnwärtern und Bahnhofsvorstehern, die mit der roten Mütze plötzlich im Leeren stehen. Manchmal schlafe ich aus purem Überdruß ein. Einschlafen ist gefährlich, nur selten wache ich erfrischt auf und freue mich über die Veränderungen. Die Regel ist, daß mich verstört, was ich beim Aufwachen vorfinde, im Inneren wie im Äußeren.
Manchmal schrecke ich auf und denke: Der Zug kann jederzeit entgleisen. Ja, meistens erschreckt mich der Gedanke. Doch in seltenen, weißglühenden Momenten durchzuckt er mich wie ein seliger Blitz.
Ich wache auf, und die Landschaft der anderen zieht vorüber. Rasend manchmal, so daß ich mit ihren Launen und ihrem sprühenden Unsinn kaum mitkomme; dann wieder mit quälender Langsamkeit, wenn sie immer dasselbe sagen und tun. Ich bin froh über die Scheibe zwischen ihnen und mir. So erkenne ich ihre Wünsche und
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