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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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was er noch nicht kannte: Er wachte direkt in den Schwindel hinein auf. Eine Flut irregeleiteter nervlicher Erregung schwappte durch ihn hindurch. Er drohte, in die Tiefe zu fallen, und hielt sich krampfhaft an den Armlehnen des Sitzes fest. Die Augen zu schließen, machte es noch schlimmer. Er schlug die Hände vors Gesicht. Es war vorbei.
    Λ ίοтϱον . Alles in Ordnung.
    Warum war er nicht geflogen? Morgen früh, in achtzehn Stunden, war er in Genf, drei Stunden später zu Hause. Mittags bei Doxiades, der das weitere veranlassen würde.
    Der Zug fuhr langsamer. SALAMANCA . Und ein zweites Schild: SALAMANCA . Estefânia Espinhosa.
    Gregorius stand auf, wuchtete den Koffer von der Ablage und hielt sich fest, bis der Schwindel vorbei war. Auf dem Bahnsteig trat er fest auf, um das Luftkissen zu zertreten, das ihn umfing.

50
     
    Wenn er später an seinen ersten Abend in Salamanca zurückdachte, kam es ihm vor, als sei er stundenlang, gegen den Schwindel ankämpfend, durch Kathedralen, Kapellen und Kreuzgänge gestolpert, blind für ihre Schönheit, aber überwältigt von ihrer dunklen Wucht. Er blickte auf Altäre, Kuppeln und Chorgestühle, die sich in der Erinnerung sofort überlagerten, geriet zweimal in eine Messe und blieb schließlich in einem Orgelkonzert sitzen. Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik.
    Das hatte der siebzehnjährige Prado geschrieben. Ein Junge, der glühte. Ein Junge, der kurz danach mit Jorge O’Kelly nach Coimbra ging, wo ihnen die ganze Welt zu gehören schien und wo er im Hörsaal die Professoren zurechtwies. Ein Junge, der noch nichts gewußt hatte von der Brandung des Zufalls, von verwehtem Treibsand und der Asche der Vergeblichkeit.
    Jahre danach hatte er diese Zeilen an Pater Bartolomeu geschrieben: Es gibt Dinge, die für uns Menschen zu groß sind: Schmerz, Einsamkeit und Tod, aber auch Schönheit, Erhabenheit und Glück. Dafür haben wir die Religion geschaffen. Was geschieht, wenn wir sie verlieren? Jene Dinge sind dann immer noch zu groß für uns. Was uns bleibt, ist die Poesie des einzelnen Lebens. Ist sie stark genug, uns zu tragen?
    Von seinem Hotelzimmer aus konnte Gregorius die Alte und die Neue Kathedrale sehen. Wenn die Stunde schlug, trat er ans Fenster und blickte hinüber zu den erleuchteten Fassaden. San Juan de la Cruz hatte hier gelebt. Florence war, während sie über ihn schrieb, mehrmals hierher gereist. Sie war mit anderen Studenten gefahren, ihm war nicht danach gewesen. Er hatte nicht gemocht, wie sie von den mystischen Gedichten des großen Dichters geschwärmt hatte, sie und die anderen.
    Von Poesie schwärmte man nicht. Man las sie. Man las sie mit der Zunge. Man lebte damit. Man spürte, wie sie einen bewegte, veränderte. Wie sie dazu beitrug, daß das eigene Leben eine Form bekam, eine Färbung, eine Melodie. Man sprach nicht darüber, und schon gar nicht machte man sie zum Kanonenfutter einer akademischen Karriere.
    In Coimbra hatte er sich gefragt, ob er nicht doch ein mögliches Leben an der Universität verpaßt hatte. Die Antwort war: nein. Er spürte noch einmal, wie er in Paris im coupole gesessen und Florences geschwätzige Kollegen mit seiner bernischen Zunge und seinem Bernischen Wissen niedergewalzt hatte. Nein .
    Später träumte er, daß ihn Aurora in Silveiras Küche zu Orgelmusik herumwirbelte, die Küche weitete sich, er schwamm steil nach unten und geriet in einen Sog, bis er das Bewußtsein verlor und aufwachte.
    Er war beim Frühstück der erste. Nachher ging er zur Universität und fragte sich zur Fakultät für Geschichte durch. Die Vorlesung von Estefânia Espinhosa war in einer Stunde: Isabel la Católica.
    Im Innenhof der Universität drängten sich unter den Arkaden die Studenten. Gregorius verstand von ihrem rasenden Spanisch kein Wort und ging frühzeitig in den Hörsaal, einen getäfelten Raum von karger, klösterlicher Vornehmheit, vorne ein erhöhtes Pult. Der Raum füllte sich. Es war ein großer Raum, doch bereits vor der Zeit

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