Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Bibeln gab, eine endlose Reihe davon.
Beim Frühstück nahm Gregorius von allem zweimal und blieb dann zum Mißbehagen der Kellnerin sitzen, die den Speisesaal fürs Mittagessen vorbereitete. Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Vorhin hatte er einem deutschen Ehepaar zugehört, das seinen touristischen Plan für den Tag gemacht hatte. Er hatte es auch versucht und war gescheitert. Lissabon interessierte ihn nicht als Sehenswürdigkeit, als touristische Kulisse. Lissabon war die Stadt, in die er aus seinem Leben davongelaufen war. Das einzige, was er sich vorstellen konnte, war, die Fähre über den Tejo zu nehmen, um die Stadt einmal aus dieser Perspektive zu sehen. Aber eigentlich wollte er auch das nicht. Doch was war es dann, was er wollte?
In seinem Zimmer baute er die Bücher auf, die sich angesammelt hatten: die beiden über das Erdbeben und den Schwarzen Tod, den Roman von Eça de Queirós, Das Buch der Unruhe, das Neue Testament, die Sprachbücher. Dann packte er versuchsweise den Koffer und stellte ihn an die Tür.
Nein, das war es auch nicht. Nicht wegen der Brille, die er morgen abholen mußte. Jetzt in Zürich landen und in Bern aus dem Zug steigen: Es war nicht möglich; es war nicht mehr möglich.
Was sonst? War es das, was der Gedanke an die verrinnende Zeit und den Tod bewirkte: daß man auf einmal nicht mehr wußte, was man wollte? Daß man seinen Willen nicht mehr kannte? Daß man die selbstverständliche Vertrautheit mit dem eigenen Wollen verlor? Und sich auf diese Weise fremd und zum Problem wurde?
Warum machte er sich nicht auf die Suche nach dem blauen Haus, in dem Adriana de Prado vielleicht immer noch wohnte, einunddreißig Jahre nach dem Tod des Bruders? Warum zögerte er? Warum war da plötzlich eine Sperre?
Gregorius tat, was er immer getan hatte, wenn er unsicher gewesen war: Er schlug ein Buch auf. Seine Mutter, ein Bauernkind aus dem Berner Mittelland, hatte selten ein Buch in die Hand genommen, höchstens einmal einen Heimatroman von Ludwig Ganghofer, und daran hatte sie dann wochenlang gelesen. Der Vater hatte das Lesen entdeckt als Mittel gegen die Langeweile in den leeren Sälen des Museums, und nachdem er auf den Geschmack gekommen war, las er alles, was ihm in die Hände geriet. Jetzt flüchtest auch du dich in die Bücher , hatte die Mutter gesagt, als der Sohn ebenfalls das Lesen entdeckte. Es hatte Gregorius weh getan, daß sie es so sah und daß sie nicht verstand, wenn er vom Zauber und der Leuchtkraft sprach, die gute Sätze hatten.
Es gab die Menschen, die lasen, und es gab die anderen. Ob einer ein Leser war oder ein Nichtleser – man merkte es schnell. Es gab zwischen den Menschen keinen größeren Unterschied als diesen. Die Leute staunten, wenn er das behauptete, und manche schüttelten den Kopf über so viel Verschrobenheit. Aber es war so. Gregorius wußte es. Er wußte es.
Er schickte das Zimmermädchen weg und versank in den nächsten Stunden in der Anstrengung, eine Aufzeichnung von Amadeu de Prado zu verstehen, deren Titel ihm beim Blättern ins Auge gesprungen war.
O INTERIOR DO EXTERIOR DO INTERIOR. DAS INNERE DES ÄUSSEREN DES INNEREN . Vor einiger Zeit – es war an einem gleißenden Vormittag im Juni, die morgendliche Helligkeit flutete bewegungslos durch die Gassen – stand ich in der Rua Garrett vor einem Schaufenster, in dem ich des blendenden Lichts wegen statt der Waren mein Spiegelbild erblickte. Es war mir lästig, mir selbst im Wege zu stehen – zumal das Ganze wie ein Sinnbild der Art und Weise war, wie ich auch sonst zu mir stand –, und gerade schickte ich mich an, meinem Blick durch den schattenspendenden Trichter meiner Hände den Weg nach innen zu bahnen, da tauchte hinter meinem Spiegelbild – es mutete mich an wie ein drohender Gewitterschatten, der die Welt veränderte – die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes auf. Er blieb stehen, holte aus der Hemdtasche eine Packung Zigaretten und steckte sich eine zwischen die Lippen. Während er den Rauch des ersten Zuges ausatmete, wanderte sein Blick und blieb schließlich an mir haften . Wir Menschen: was wissen wir voneinander? , dachte ich und tat – um seinem gespiegelten Blick nicht begegnen zu müssen –, als könnte ich die Auslage im Fenster mühelos erkennen. Der Fremde sah einen hageren Mann mit angegrautem Haar, einem schmalen, strengen Gesicht und dunklen Augen hinter runden Gläsern, in Gold gefaßt. Ich warf einen prüfenden Blick auf mein Spiegelbild.
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