Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
in seinen Blick hinein, bildete ihn in mir nach und nahm aus ihm heraus mein Spiegelbild in mich auf. So wie ich aussah und wirkte – dachte ich – war ich nie gewesen, keine einzige Minute meines Lebens. Nicht in der Schule, nicht im Studium, nicht in der Praxis. Geht es den Anderen auch so: daß sie sich in ihrem Äußeren nicht wiedererkennen? Daß ihnen das Spiegelbild wie eine Kulisse voll von plumper Verzerrung vorkommt? Daß sie mit Schrecken einen Abgrund bemerken zwischen der Wahrnehmung, die die Anderen von ihnen haben, und der Art, wie sie sich selbst erleben? Daß die Vertrautheit von innen und die Vertrautheit von außen so weit auseinander liegen können, daß sie kaum mehr als Vertrautheit mit demselben gelten können?
Die Ferne zu den Anderen, in die uns dieses Bewußtsein rückt, wird noch einmal größer, wenn uns klar wird, daß unsere äußere Gestalt den Anderen nicht so erscheint wie den eigenen Augen. Menschen sieht man nicht wie Häuser, Bäume und Sterne. Man sieht sie in der Erwartung, ihnen auf bestimmte Weise begegnen zu können und sie dadurch zu einem Stück des eigenen Inneren zu machen. Die Einbildungskraft schneidet sie zurecht, damit sie zu den eigenen Wünschen und Hoffnungen passen, aber auch so, daß sich an ihnen die eigenen Ängste und Vorurteile bestätigen können. Wir gelangen nicht einmal sicher und unvoreingenommen bis zu den äußeren Konturen eines Anderen. Unterwegs wird der Blick abgelenkt und getrübt von all den Wünschen und Phantasmen, die uns zu dem besonderen, unverwechselbaren Menschen machen, der wir sind. Selbst die Außenwelt einer Innenwelt ist noch ein Stück unserer Innenwelt, ganz zu schweigen von den Gedanken, die wir uns über die fremde Innenwelt machen und die so unsicher und ungefestigt sind, daß sie mehr über uns selbst als über den Anderen aussagen. Wie sieht der Mann mit der Zigarette einen betont aufrechten Mann mit hagerem Gesicht, vollen Lippen und einer goldgeränderten Brille auf der scharfen, geraden Nase, die mir selbst zu lang vorkommt und zu dominierend? Wie fügt sich diese Gestalt in das Gerüst seines Gefallens und Mißfallens und in die sonstige Architektur seiner Seele? Was an meiner Erscheinung übertreibt und überhöht sein Blick, und was läßt er weg, als wäre es gar nicht vorhanden? Es wird unvermeidlich ein Zerrbild sein, was sich der rauchende Fremde von meinem Spiegelbild macht, und sein Gedankenbild von meiner Gedankenwelt wird Zerrbild auf Zerrbild türmen. Und so sind wir uns doppelt fremd, denn zwischen uns steht nicht nur die trügerische Außenwelt, sondern auch das Trugbild, das von ihr in jeder Innenwelt entsteht.
Ist sie ein Übel, diese Fremdheit und Ferne? Müßte uns ein Maler mit weit ausgestreckten Armen darstellen, verzweifelt in dem vergeblichen Versuch, die Anderen zu erreichen? Oder sollte uns sein Bild in einer Haltung zeigen, in der Erleichterung darüber zum Ausdruck kommt, daß es diese doppelte Barriere gibt, die auch ein Schutzwall ist? Sollten wir für den Schutz dankbar sein, den uns die Fremdheit voreinander gewährt? Und für die Freiheit, die sie möglich macht? Wie wäre es, wenn wir uns ungeschützt durch die doppelte Brechung, die der gedeutete Körper darstellt, gegenüberstünden? Wenn wir, weil nichts Trennendes und Verfälschendes zwischen uns stünde, gleichsam ineinanderstürzten?
Beim Lesen von Prados Selbstbeschreibung blickte Gregorius immer wieder auf das Portrait vorne im Buch. In Gedanken ließ er das zum Helm gekämmte Haar des Arztes grau werden und setzte ihm eine goldgeränderte Brille mit runden Gläsern auf. Hochmut, sogar Menschenverachtung hatten die anderen an ihm gesehen. Dabei war er, hatte Coutinho gesagt, ein beliebter Arzt gewesen, ein verehrter sogar. Bis er dem Mann von der Geheimpolizei das Leben gerettet hatte. Danach war er von denselben Leuten, die ihn geliebt hatten, geächtet worden. Es hatte ihm das Herz gebrochen, und er hatte versucht, es gutzumachen, indem er für den Widerstand arbeitete.
Wie konnte es sein, daß ein Arzt das Bedürfnis nach Sühne hatte für etwas, was jeder Arzt tat – tun mußte – und was das Gegenteil einer Verfehlung war? Etwas, dachte Gregorius, konnte an Coutinhos Darstellung nicht stimmen. Die Dinge mußten komplizierter gewesen sein, verwickelter. Gregorius blätterte. Nós homens, que sabemos uns dos outros? Wir Menschen: was wissen wir voneinander? Eine Weile blätterte Gregorius noch. Vielleicht gab es eine
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