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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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verrückt bezeichnet. Das konnte nicht heißen, daß Coutinho verwirrt war; davon konnte keine Rede sein. Was er in seinem einsamen Leben mit der Katze verloren zu haben schien, war das Gefühl für Distanz und Nähe.
    Nein, sagte Gregorius jetzt, die Nummer habe er nicht mehr. Schade, sagte der Alte. Er glaubte ihm kein Wort, und plötzlich saßen sie sich wieder gegenüber wie zwei vollständig Fremde.
    Es gebe im Telefonbuch keine Adriana de Almeida Prado, sagte Gregorius nach einer verlegenen Pause.
    Das brauche nichts zu heißen, sagte Coutinho mürrisch, Adriana müsse, wenn sie noch lebe, an die achtzig sein, und alte Leute meldeten das Telefon manchmal ab, das habe er vor kurzem auch getan. Und wenn sie gestorben wäre, stünde doch auch ihr Name auf dem Grabmal. Die Adresse, wo der Arzt gewohnt und gearbeitet hatte, nein, die wisse er nach vierzig Jahren nicht mehr. Irgendwo im Bairro Alto. Allzu schwer könne es für ihn nicht sein, das Haus zu finden, denn es sei ein Haus mit vielen blauen Kacheln an der Fassade und weit und breit das einzige blaue Haus. Damals jedenfalls. O consultório azul , die blaue Praxis, hätten es die Leute genannt.
    Als Gregorius den alten Mann eine Stunde später verließ, waren sie sich wieder nähergekommen. Ruppige Distanz und überraschende Komplizenschaft wechselten sich in Coutinhos Verhalten in unregelmäßiger Folge ab, ohne daß ein Grund für den abrupten Wechsel zu erkennen war. Staunend ging Gregorius durch das Haus, das bis in den letzten Winkel hinein eine einzige Bibliothek war. Der Alte war ungemein belesen und besaß eine Unzahl von Erstausgaben.
    Er kannte sich in portugiesischen Namen aus. Die Prados, so erfuhr Gregorius, waren ein sehr altes Geschlecht, das auf João Nunes do Prado zurückging, einen Enkel von Alfonso III, König von Portugal. Eça? Ging zurück auf Pedro I und Inês de Castro und war einer der vornehmsten Namen von ganz Portugal.
    »Mein Name freilich ist noch älter und auch mit dem Königshaus verbunden«, sagte Coutinho, und durch die ironische Brechung hindurch konnte man den Stolz erkennen.
    Er beneidete Gregorius um die Kenntnis der alten Sprachen, und auf dem Weg zur Tür zog er mit einemmal eine griechisch-portugiesische Ausgabe des Neuen Testaments aus dem Regal.
    »Keine Ahnung, warum ich dir das gebe«, sagte er, »aber so ist es nun.«
    Als Gregorius über den Hof ging, wußte er, daß er diesen Satz nie vergessen würde. Und auch nicht die Hand des Alten auf seinem Rücken, die ihn sanft hinausgeschoben hatte.
    Die Straßenbahn ratterte durch die frühe Dämmerung. Nachts würde er das blaue Haus nie finden, dachte Gregorius. Der Tag hatte eine Ewigkeit gedauert, und jetzt lehnte er den Kopf erschöpft gegen die beschlagene Wagenscheibe. War es möglich, daß er erst zwei Tage in dieser Stadt war? Und daß erst vier Tage, also noch nicht einmal hundert Stunden, vergangen waren, seit er seine Lateinbücher auf dem Lehrerpult zurückgelassen hatte? Am Rossio, dem bekanntesten Platz Lissabons, stieg er aus und schleppte sich mit der schweren Tüte aus dem Antiquariat von Simões zum Hotel.

10
     
    Warum hatte Kägi mit ihm in einer Sprache geredet, die wie Portugiesisch klang, es aber nicht war? Und warum hatte er auf Marc Aurel geschimpft, ohne ein einziges Wort über ihn zu sagen?
    Gregorius saß auf der Bettkante und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann war da der Hausmeister gewesen, der in der Halle des Gymnasiums mit dem Schlauch die Stelle abgespritzt hatte, an der er mit der Portugiesin gestanden hatte, als sie sich das Haar trocknete. Vorher oder nachher, das war nicht zu entscheiden, war Gregorius mit ihr zu Kägi ins Büro gegangen, um sie ihm vorzustellen. Er mußte dazu keine Tür öffnen, plötzlich hatten sie einfach vor seinem riesigen Schreibtisch gestanden, ein bißchen wie Bittsteller, die ihre Bitte vergessen hatten; doch dann war der Rektor plötzlich gar nicht mehr dagewesen, der Schreibtisch und sogar die Wand dahinter waren verschwunden, und sie hatten einen freien Blick auf die Alpen gehabt.
    Jetzt bemerkte Gregorius, daß die Tür zur Minibar halb offenstand. Irgendwann war er vor Hunger aufgewacht und hatte die Erdnüsse und die Schokolade gegessen. Zuvor hatte ihn der überquellende Briefkasten seiner Berner Wohnung gequält, all die Rechnungen und all die Reklame, und auf einmal hatte seine Bibliothek in Flammen gestanden, bevor sie dann zu Coutinhos Bibliothek wurde, in der es lauter verkohlte

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