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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Wie immer stand ich mit meinen eckigen Schultern gerader als gerade, den Kopf weiter oben, als meine Größe es eigentlich erlaubte, dazu war er eine Spur nach hinten geneigt, und es war unzweifelhaft richtig, was selbst diejenigen sagten, die mich mochten: Ich sah aus wie ein hochmütiger Menschenverächter, der alles Menschliche geringachtete, ein Misanthrop, der für alles und jeden eine spöttische Bemerkung bereithielt. Das war der Eindruck, den der rauchende Mann gewinnen mußte.
    Wie sehr er sich täuschte! Manchmal nämlich denke ich: Ich stehe und gehe deshalb so übertrieben gerade, um gegen den unwiderruflich gekrümmten Leib meines Vaters zu protestieren, gegen seine Qual, von der Bechterevschen Krankheit niedergedrückt zu werden, den Blick zu Boden richten zu müssen wie ein geschundener Knecht, der sich nicht traut, dem Herrn erhobenen Hauptes und mit geradem Blick zu begegnen. Es ist dann vielleicht, als könnte ich, indem ich mich strecke, den Rücken meines stolzen Vaters über das Grab hinaus begradigen oder durch ein rückwärts gewandtes, magisches Wirkungsgesetz dafür sorgen, daß sein Leben weniger gebeugt und schmerzgeknechtet wäre, als es tatsächlich war – als könnte ich durch meine gegenwärtige Anstrengung die gequälte Vergangenheit ihrer Tatsächlichkeit entkleiden und sie durch eine bessere, freiere ersetzen.
    Und das war nicht die einzige Täuschung, die mein Anblick in dem Fremden hinter mir hervorrufen mußte. Nach einer endlosen Nacht, in der ich ohne Schlaf und Trost geblieben war, wäre ich der letzte gewesen, der auf andere hinabgesehen hätte. Am Vortag hatte ich einem Patienten in Gegenwart seiner Frau eröffnet, daß er nicht mehr lange zu leben hatte. Du mußt es tun, hatte ich auf mich selbst eingeredet, bevor ich die beiden ins Sprechzimmer rief, sie müssen für sich und die fünf Kinder planen können – und überhaupt: Ein Teil der menschlichen Würde besteht in der Kraft, seinem Geschick, auch dem schweren, ins Auge sehen zu können. Es war am frühen Abend gewesen, durch die offene Balkontür hatte ein leichter, warmer Wind die Geräusche und Gerüche eines ausklingenden Sommertages hereingetragen, und wenn man sich dieser sanften Welle von Lebendigkeit rückhaltlos und selbstvergessen hätte überlassen können, so hätte es ein Augenblick des Glücks sein können. Wenn doch nur ein scharfer, unbarmherziger Wind den Regen gegen die Scheiben peitschte!, hatte ich gedacht, als sich der Mann und die Frau mir gegenüber auf die äußerste Kante der Stühle setzten, zögernd und voll von ängstlicher Ungeduld, begierig, das Urteil zu hören, das sie von dem Schrecken eines baldigen Todes freisprechen würde, so daß sie hinuntergehen und sich unter die flanierenden Passanten mischen könnten, ein Meer von Zeit vor sich. Ich nahm die Brille ab und faßte mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel, bevor ich sprach. Die beiden müssen die Geste als Vorboten einer schrecklichen Wahrheit erkannt haben, denn als ich aufsah, hatten sie sich bei den Händen gefaßt, die – so schien es mir, und der Gedanke schnürte mir die Kehle zu, so daß das bange Warten noch einmal länger wurde – es seit Jahrzehnten nicht mehr gewohnt gewesen waren, sich zu suchen. Ich sprach hinunter zu diesen Händen, so schwer war es, den Augen standzuhalten, aus denen namenloses Entsetzen sprach. Die Hände krampften sich ineinander, das Blut wich aus ihnen, und es war dieses Bild eines blutleeren, weißen Fingerknäuels, das mir den Schlaf raubte und das ich zu verscheuchen suchte, als ich zu meinem Spaziergang aufbrach, der mich vor das spiegelnde Schaufenster geführt hatte. (Und noch etwas anderes hatte ich in den leuchtenden Gassen zu verscheuchen versucht: die Erinnerung daran, wie sich mein Zorn über die Ungeschicklichkeit meiner Worte beim Verkünden der bitteren Botschaft später gegen Adriana gerichtet hatte, nur weil sie, die besser für mich sorgt als eine Mutter, ausnahmsweise vergessen hatte, mein Lieblingsbrot mitzubringen. Mochte das weißgoldene Licht des Vormittags diese Ungerechtigkeit, die für mich nicht untypisch war, auslöschen!)
    Der Mann mit der Zigarette, der jetzt an einem Laternenpfahl lehnte, ließ seinen Blick hin und her wandern zwischen mir und dem Geschehen in der Gasse. Was er von mir sah, konnte ihm nichts über meine selbstzweiflerische Zerbrechlichkeit verraten, die meiner stolzen, ja überheblichen Körperhaltung so wenig entsprach. Ich versetzte mich

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