Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
QUE NASCEU EM 20 DE DEZEMBRO DE 1920 E FALECEU EM 20 DE JUNHO DE 1973 .
Gregorius starrte auf die letzte Zahl. Das Buch in seiner Tasche war 1975 erschienen. Wenn es sich bei diesem Amadeu de Prado um den Arzt handelte, der das strenge Liceu von Senhor Cortês besucht und später immer wieder auf dem warmen Moos seiner Treppenstufen gesessen hatte, weil er sich fragte, wie es gewesen wäre, ein anderer zu werden – dann hatte er seine Aufzeichnungen nicht mehr selbst veröffentlicht. Jemand anderes hatte es getan, wahrscheinlich im Selbstverlag. Ein Freund, ein Bruder, eine Schwester. Wenn es diese Person neunundzwanzig Jahre danach noch gab: Sie war es, die er finden mußte.
Doch der Name auf dem Grabmal konnte auch Zufall sein. Gregorius wollte, daß es eine zufällige Übereinstimmung sei; er wollte es mit aller Macht. Er spürte, wie enttäuscht er wäre und wie mutlos er würde, wenn er dem melancholischen Mann, der die portugiesische Sprache neu hatte setzen wollen, weil sie in der alten Form so abgegriffen war, nicht mehr begegnen könnte.
Trotzdem holte er sein Notizbuch hervor und schrieb alle Namen mit den Geburts- und Todesdaten auf. Dieser Amadeu de Prado war dreiundfünfzig geworden. Den Vater hatte er mit vierunddreißig Jahren verloren. War das der Vater gewesen, dem das Lächeln meistens mißlang? Die Mutter war gestorben, als er vierzig war. Fátima Galhardo – das konnte Amadeus Frau gewesen sein, eine Frau, die nur fünfunddreißig geworden und gestorben war, als er einundvierzig war.
Noch einmal ließ Gregorius den Blick über das Grabmal gleiten, und jetzt erst bemerkte er eine Inschrift auf dem Sockel, halb verdeckt von wildem Efeu: QUANDO A DITADURA É UM FACTO A REVOLU ÇÃ O É UM DEVER . Wenn die Diktatur eine Tatsache ist, ist die Revolution eine Pflicht. War der Tod dieses Prado ein politischer Tod gewesen? Die Nelkenrevolution in Portugal, das Ende der Diktatur, hatte im Frühjahr 1974 stattgefunden. Dieser Prado hatte sie also nicht mehr erlebt. Die Inschrift, sie klang, als sei er als Widerstandskämpfer gestorben. Gregorius holte das Buch hervor und betrachtete das Bildnis: Es könnte sein, dachte er, es würde zu dem Gesicht passen, und auch zu der verhaltenen Wut hinter allem, was er schrieb. Ein Poet und Sprachmystiker, der zur Waffe gegriffen und gegen Salazar gekämpft hatte.
Beim Ausgang versuchte er, den Mann in Uniform zu fragen, wie man herausfinden könne, wem ein Grab gehöre. Aber seine wenigen portugiesischen Wörter reichten nicht. Er holte den Zettel hervor, auf dem ihm Júlio Simões die Adresse seines Vorgängers aufgeschrieben hatte, und machte sich auf den Weg.
Vítor Coutinho wohnte in einem Haus, das aussah, als könnte es jeden Moment einstürzen. Es lag, von der Straße zurückgesetzt, hinter anderen Häusern verborgen und war im unteren Teil von Efeu überwachsen. Klingel gab es keine, und Gregorius stand eine Weile ratlos im Hof. Gerade als er sich anschickte wegzugehen, rief eine bellende Stimme aus einem der oberen Fenster:
»O que é que quer?« Was wollen Sie?
Der Kopf im Fensterrahmen war von weißen Locken umrahmt, die bruchlos in einen weißen Bart übergingen, und auf der Nase saß eine Brille mit breitem, dunklem Gestell.
»Pergunta sobre livro« , rief Gregorius so laut er konnte und hielt Prados Aufzeichnungen hoch.
»O quê?« fragte der Mann nach, und Gregorius wiederholte seine Worte.
Der Kopf verschwand, und der Türöffner summte. Gregorius trat in einen Flur mit deckenhohen, überfüllten Bücherregalen und einem abgetretenen orientalischen Teppich auf dem roten Steinboden. Es roch nach abgestandenem Essen, Staub und Pfeifentabak. Auf der knarrenden Treppe erschien der weißhaarige Mann, eine Pfeife zwischen dunklen Zähnen. Ein grobkariertes Hemd von ausgewaschener, undefinierbarer Farbe fiel über seine ausgebeulte Kordhose, die Füße steckten in Sandalen mit offenen Riemen.
»Quem é?« fragte er in der übertriebenen Lautstärke der Schwerhörigen. Die hellbraunen, an Bernstein erinnernden Augen unter den riesigen Augenbrauen blickten gereizt wie bei jemandem, den man in seiner Ruhe gestört hat.
Gregorius reichte ihm den Umschlag mit der Botschaft von Simões. Er sei Schweizer, sagte er auf portugiesisch und fügte auf französisch hinzu: Altphilologe und auf der Suche nach dem Autor dieses Buches. Als Coutinho nicht reagierte, setzte er zu einer lautstarken Wiederholung an.
Er sei nicht taub, unterbrach ihn der Alte auf
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