Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
französisch, und jetzt erschien ein schlaues Grinsen auf dem faltigen, wettergegerbten Gesicht. Der Taube – das sei eine gute Rolle bei all dem Geschwätz, das man zu hören bekomme.
Sein Französisch hatte einen abenteuerlichen Akzent, aber die Worte kamen, wenngleich langsam, in sicherer Ordnung. Er überflog die Zeilen von Simões, deutete dann auf die Küche am Ende des Flurs und ging voran. Auf dem Küchentisch lag neben einer offenen Sardinendose und einem halbvollen Rotweinglas ein aufgeschlagenes Buch. Gregorius ging zum Stuhl am anderen Ende des Tischs und setzte sich. Da trat der Alte zu ihm und tat etwas Überraschendes: Er nahm ihm die Brille ab und setzte sie auf. Er blinzelte, sah dahin und dorthin, während er die eigene Brille in der Hand schwenkte.
»Das haben wir also gemeinsam«, sagte er schließlich und gab Gregorius die Brille zurück.
Die Solidarität derer, die mit dicken Gläsern durch die Welt gingen. Mit einemmal war alle Gereiztheit und Abwehr aus Coutinhos Gesicht verschwunden, und er griff nach Prados Buch.
Ohne ein Wort betrachtete er minutenlang das Portrait des Arztes. Zwischendurch stand er, abwesend wie ein Schlafwandler, auf und schenkte Gregorius ein Glas Wein ein. Eine Katze kam hereingeschlichen und strich ihm um die Beine. Er beachtete sie nicht, nahm die Brille ab und faßte sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel, eine Geste, die Gregorius an Doxiades erinnerte. Aus dem Nebenzimmer war das Ticken einer Standuhr zu hören. Jetzt klopfte er die Pfeife aus, nahm vom Regal eine andere und stopfte sie. Noch einmal verrannen Minuten, bevor er zu sprechen begann, leise und in der Tonlage der fernen Erinnerung.
»Es wäre falsch, wenn ich sagte: Ich kannte ihn. Nicht einmal von einer Begegnung kann man sprechen. Aber ich habe ihn gesehen, zweimal, in der Tür seines Behandlungszimmers, im weißen Mantel, die Brauen hochgezogen in Erwartung des nächsten Patienten. Ich war mit meiner Schwester dort, die er behandelte. Gelbsucht. Bluthochdruck. Sie schwor auf ihn. War, glaube ich, ein bißchen verliebt in ihn. Kein Wunder, ein Bild von einem Mann, dazu eine Ausstrahlung, von der die Leute wie hypnotisiert waren. Er war der Sohn des berühmten Richters Prado, der sich das Leben nahm, manche sagten, weil er die Schmerzen des gekrümmten Rückens nicht mehr aushielt, andere mutmaßten, daß er sich nicht verzeihen konnte, unter der Diktatur im Amt geblieben zu sein.
Amadeu de Prado war ein beliebter Arzt, sogar ein verehrter. Bis er Rui Luís Mendes, dem Mann von der Geheimpolizei, den sie den Schlächter nannten, das Leben rettete. Das war Mitte der sechziger Jahre, kurz nach meinem fünfzigsten Geburtstag. Danach mieden ihn die Leute. Das hat ihm das Herz gebrochen. Von da an arbeitete er für den Widerstand, ohne daß die Leute es wußten; als ob er die rettende Tat sühnen wollte. Es kam erst nach seinem Tod heraus. Er starb, soweit ich mich erinnere, ganz überraschend an einer Hirnblutung, ein Jahr vor der Revolution. Lebte zuletzt mit Adriana zusammen, seiner Schwester, die ihn vergötterte.
Sie muß es gewesen sein, die das Buch hier drucken ließ, ich habe sogar eine Ahnung, bei wem, aber es gibt die Druckerei schon lange nicht mehr. Ein paar Jahre später tauchte es bei mir im Antiquariat auf. Ich habe es in irgendeine Ecke getan, nicht gelesen, hatte eine Abneigung gegen das Buch, weiß eigentlich nicht, warum. Vielleicht, weil ich Adriana nicht mochte, obwohl ich sie kaum kannte, aber sie assistierte ihm, und bei den beiden Malen, wo ich dort war, ging mir die herrische Art auf die Nerven, mit der sie Patienten behandelte. Vermutlich ungerecht von mir, aber so war ich immer schon.«
Coutinho blätterte. »Gute Sätze, wie es scheint. Und ein guter Titel. Ich wußte nicht, daß er schrieb. Wo haben Sie es her? Und warum sind Sie hinter ihm her?«
Die Geschichte, die Gregorius nun erzählte, klang anders als diejenige, die er José Antonio da Silveira im Nachtzug erzählt hatte. Vor allem, weil er jetzt auch von der rätselhaften Portugiesin auf der Kirchenfeldbrücke sprach und von der Telefonnummer auf der Stirn.
»Haben Sie die Nummer noch?« fragte der Alte, dem die Geschichte so gut gefiel, daß er eine neue Flasche Wein aufmachte.
Einen Moment lang war Gregorius versucht, das Notizbuch hervorzuholen. Doch dann spürte er, daß ihm das zu weit ging; nach der Episode mit der Brille war dem Alten zuzutrauen, daß er dort anrief. Simões hatte ihn als
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