Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Aufzeichnung über diese dramatische und leidvolle Wendung in seinem Leben?
Als er nichts fand, verließ er in der Dämmerung das Hotel und machte sich auf den Weg zur Rua Garrett, wo Prado im Schaufenster auf sein Spiegelbild geblickt hatte und wo auch das Antiquariat von Júlio Simões lag.
Es gab kein Sonnenlicht mehr, das die Schaufenster zu Spiegeln machte. Doch nach einer Weile fand Gregorius ein hell erleuchtetes Kleidergeschäft mit einem riesigen Spiegel, in dem er sich durch die Scheibe hindurch betrachten konnte. Er versuchte zu tun, was Prado getan hatte: sich in einen fremden Blick hineinzuversetzen, ihn in sich nachzubilden und aus diesem Blick heraus sein Spiegelbild in sich aufzunehmen. Sich selbst wie einem Fremden zu begegnen, einem, den man gerade erst kennenlernt.
So also hatten ihn die Schüler und Kollegen gesehen. So sah ihr Mundus aus. Und auch Florence hatte ihn in dieser Weise vor sich gehabt, zunächst als verliebte Schülerin in der ersten Reihe, später als eine Frau, für die er mehr und mehr zu einem schwerfälligen und langweiligen Mann geworden war, der seine Gelehrsamkeit immer öfter einsetzte, um den Zauber, die Ausgelassenheit und den Chic ihrer romanistischen Glitzerwelt zu zerstören.
Alle hatten sie dieses selbe Bild vor sich gehabt, und doch hatten sie, wie Prado sagte, jeweils etwas Unterschiedliches gesehen, weil jedes gesehene Stück menschlicher Außenwelt auch ein Stück Innenwelt war. Der Portugiese war sich sicher gewesen, daß er in keiner einzigen Minute seines Lebens so gewesen war, wie er den anderen erschien; er hatte sich in seinem Äußeren – wie vertraut es auch war – nicht wiedererkannt und war über diese Fremdheit zutiefst erschrocken.
Jetzt wurde Gregorius von einem vorbeihastenden Jungen angerempelt und fuhr zusammen. Das Erschrecken über den Stoß fiel zusammen mit dem beunruhigenden Gedanken, daß er keine Gewißheit besaß, die derjenigen des Arztes ebenbürtig gewesen wäre. Woher hatte Prado seine Sicherheit genommen, daß er ganz anders war, als die anderen ihn sahen? Wie war er zu ihr gelangt? Er sprach darüber wie über ein helles Licht im Inneren, das ihm schon immer geleuchtet hatte, ein Licht, das zugleich große Vertrautheit mit sich selbst und größte Fremdheit im Angesicht der anderen bedeutet hatte. Gregorius schloß die Augen und saß wieder im Speisewagen auf der Fahrt nach Paris. Die neue Art von Wachheit, die er dort erfahren hatte, als ihm klar wurde, daß seine Reise tatsächlich stattfand – hatte sie etwas mit der besonderen Wachheit zu tun, die der Portugiese sich selbst gegenüber besessen hatte, einer Wachheit, deren Preis die Einsamkeit gewesen war? Oder waren das zwei ganz unterschiedliche Dinge?
Er gehe in einer Haltung durch die Welt, als sei er stets über ein Buch gebeugt und als lese er unablässig, sagten die Leute zu Gregorius. Jetzt richtete er sich auf und versuchte zu erspüren, wie es war, mit einem betont geraden Rücken und einem besonders hoch getragenen Kopf den schmerzgekrümmten Rücken des eigenen Vaters zu begradigen. Im Progymnasium hatte er einen Lehrer gehabt, der an der Bechterevschen Krankheit litt. Solche Leute schoben den Kopf in den Nacken, um nicht ständig auf den Boden blicken zu müssen. Sie wirkten dadurch so, wie Prado den Hausmeister beschrieben hatte, dem er bei seinem Schulbesuch begegnet war: vogelähnlich. Es kursierten grausame Scherze über die gekrümmte Gestalt, und der Lehrer rächte sich durch tückische, strafende Strenge. Wie war es, wenn man einen Vater hatte, der sein Leben in dieser demütigenden Haltung verbringen mußte, Stunde für Stunde, Tag für Tag, am Richtertisch ebenso wie am Eßtisch mit den Kindern?
Alexandre Horácio de Almeida Prado war Richter gewesen, ein berühmter Richter, wie Coutinho gesagt hatte. Ein Richter, der unter Salazar Recht gesprochen hatte – unter einem Mann also, der jedes Recht gebrochen hatte. Ein Richter, der sich das vielleicht nicht hatte vergeben können und der deshalb den Tod suchte. Wenn die Diktatur eine Tatsache ist, ist die Revolution eine Pflicht , stand auf dem Sockel des Grabmals der Prados. Stand es dort wegen des Sohnes, der in den Widerstand gegangen war? Oder auch wegen des Vaters, der die Wahrheit des Satzes zu spät erkannt hatte?
Auf dem Weg hinunter zum großen Platz spürte Gregorius, daß er diese Dinge wissen wollte und daß er sie auf andere, dringlichere Weise wissen wollte als die vielen geschichtlichen
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