Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
der Rückfahrt nach London an ihn dachte, kam es mir vor, als wäre er, oder ein Teil von ihm, lieber mit mir nach Portugal zurückgekehrt, statt seine Reise fortzusetzen. Er hatte mich um meine Adresse gebeten, und es war mehr gewesen als Höflichkeit einer Reisebekanntschaft gegenüber. Tatsächlich brachen sie die Reise bald ab und kehrten nach Lissabon zurück. Aber das hatte nichts mit mir zu tun. Seine Schwester, die ältere, hatte ein Kind abtreiben lassen und war dabei fast gestorben. Er wollte nach dem Rechten sehen, er traute den Ärzten nicht. Ein Arzt, der den Ärzten mißtraute. So war er, so war Amadeu.«
Gregorius sah Adrianas bitteren, unversöhnlichen Blick vor sich. Er begann zu verstehen. Und was war mit der jüngeren Schwester? Doch das mußte warten.
»Es vergingen dreizehn Jahre, bis ich ihn wiedersah«, fuhr Eça fort. Es war im Winter 1965, dem Jahr, als die Sicherheitspolizei Delgado ermordet hatte. Er hatte von der Firma meine neue Adresse erfahren und stand eines Abends vor der Tür, bleich und unrasiert. Das Haar, das einst geglänzt hatte wie schwarzes Gold, war stumpf geworden, und aus dem Blick sprach Schmerz. Er erzählte, wie er Rui Luís Mendes, einem hohen Offizier der Geheimpolizei, den man den Schlächter von Lissabon nannte, das Leben gerettet hatte und wie seine früheren Patienten ihn nun mieden, er fühlte sich geächtet.
›Ich will für den Widerstand arbeiten‹, sagte er.
›Um es wiedergutzumachen?‹
Er blickte verlegen zu Boden.
›Du hast nichts verbrochen‹, sagte ich, ›du bist Arzt.‹
›Ich will etwas tun‹, sagte er, ›verstehst du: tun . Sag mir, was ich tun kann. Du kennst dich doch aus.‹
›Woher willst du das wissen?‹
›Ich weiß es‹, sagte er. ›Ich weiß es seit Brighton.‹
Es war gefährlich. Für uns noch viel mehr als für ihn selbst. Denn für einen Widerstandskämpfer hatte er nicht – wie soll ich sagen – die richtige innere Statur, den richtigen Charakter. Du mußt Geduld haben, warten können, du mußt einen Kopf haben wie meinen, einen Bauernschädel, und nicht die Seele eines feinnervigen Träumers. Sonst riskierst du zuviel, machst Fehler, bringst alles in Gefahr. Die Kaltblütigkeit, die hatte er, fast zuviel davon, er neigte zur Tollkühnheit. Ihm fehlte die Ausdauer, die Sturheit, die Fähigkeit, nichts zu tun, auch wenn die Gelegenheit günstig scheint. Er spürte, daß ich so dachte, er spürte die Gedanken der anderen, noch bevor sie mit dem Denken begonnen hatten. Es war hart für ihn, es war, denke ich, das erste Mal in seinem Leben, daß jemand zu ihm sagte: Das kannst du nicht, dazu fehlt dir eine Fähigkeit. Aber er wußte, daß ich recht hatte, er war alles andere als blind sich selbst gegenüber, und er akzeptierte, daß die Aufgaben in der ersten Zeit klein und unscheinbar waren.
Immer wieder schärfte ich ihm ein, daß er vor allem der einen Versuchung widerstehen mußte: die Patienten wissen zu lassen, daß er für uns arbeitete. Er wollte es ja, um einen vermeintlichen Bruch der Loyalität mit Mendes’ Opfern zu sühnen. Und eigentlich ergab dieser Plan nur einen Sinn, wenn die Leute, die es ihm vorwarfen, davon erfuhren. Wenn er sie dazu bringen konnte, ihr verachtungsvolles Urteil zu revidieren. Ihn wieder zu verehren und zu lieben wie vorher. Dieser Wunsch war übermächtig in ihm, das wußte ich, und er war sein und unser größter Feind. Er brauste auf, wenn ich davon sprach, tat, als unterschätzte ich seine Intelligenz, ich, nichts weiter als ein Buchhalter, der zudem noch fünf Jahre jünger war als er. Doch er wußte, daß ich auch in diesem Punkt recht hatte. ›Ich hasse es, wenn jemand über mich so gut Bescheid weiß wie du‹, sagte er einmal. Und grinste.
Er hat seine Sehnsucht, seine aberwitzige Sehnsucht nach Vergebung für etwas, das gar keine Verfehlung gewesen war, niedergekämpft und hat keinen Fehler gemacht, oder doch keinen, der Konsequenzen gehabt hätte.
Aus dem Verborgenen heraus hielt Mendes die Hand über ihn, seinen Lebensretter. In Amadeus Praxis wurden Botschaften übermittelt, Umschläge mit Geld wechselten die Hand. Es gab nie eine Durchsuchung, wie sie sonst an der Tagesordnung waren. Amadeu war wütend darüber, so war er, der gottlose Priester, er wollte ernst genommen werden, geschont zu werden verletzte ihn in seinem Stolz, der etwas vom Stolz eines Märtyrers hatte.
Für eine Weile beschwor das eine neue Gefahr herauf: die Gefahr, er könnte Mendes durch eine
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