Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
in den Taschen der Strickjacke zu Fäusten ballten, und jetzt begriff er: Er wollte nicht, daß Gregorius seine entstellten und zitternden Hände sah, die bleibenden Male des Schreckens. Und so goß er Tee für beide ein. Aus den beiden Tassen dampfte es. Gregorius wartete. Aus dem Nebenzimmer hörte man das Lachen von Besuchern. Dann war es wieder still.
Die lautlose Art, mit der Eça schließlich die Hand aus der Tasche nahm und zur Tasse führte, erinnerte an sein lautloses Erscheinen in der Tür. Er hielt dabei die Augen geschlossen, als glaube er, die entstellte Hand werde dadurch auch für den anderen unsichtbar. Die Hand war übersät von Spuren brennender Zigaretten, zwei Fingernägel fehlten, und sie zitterte wie bei einer Schüttellähmung. Jetzt warf Eça Gregorius einen prüfenden Blick zu: ob er dem Anblick gewachsen sei. Gregorius hielt sein Entsetzen, das ihn wie ein Schwächeanfall durchflutete, in Schach, und er führte seine Tasse ruhig zum Mund.
»Meine darf man nur halb füllen.«
Eça sagte es leise und gepreßt, und Gregorius sollte diese Worte nie vergessen. Er spürte ein Brennen in den Augen, das Tränen ankündigte, und dann tat er etwas, das die Beziehung zwischen ihm und diesem geschundenen Mann für immer prägen sollte: Er nahm Eças Tasse und goß die Hälfte des heißen Tees in sich hinein.
Zunge und Kehle brannten. Es spielte keine Rolle. Ruhig stellte er die halbvolle Tasse zurück und drehte den Henkel hin zu Eças Daumen. Jetzt sah ihn der Mann mit einem langen Blick an, und auch dieser Blick grub sich tief hinein in sein Gedächtnis. Es war ein Blick, in dem sich Ungläubigkeit und Dankbarkeit mischten, eine Dankbarkeit, die nur versuchsweise galt, denn Eça hatte vor langer Zeit aufgegeben, von anderen etwas zu erwarten, für das man dankbar sein konnte. Zitternd führte er die Tasse an die Lippen, wartete einen günstigen Augenblick ab und trank dann in hastigen Schlucken. Es gab ein rhythmisches Klirren, als er die Tasse auf die Untertasse setzte.
Jetzt holte er eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche, steckte eine zwischen die Lippen und führte die zitternde Flamme zum Tabak. Er rauchte in tiefen, ruhigen Zügen, und das Zittern wurde weniger. Die Hand mit der Zigarette hielt er so, daß man die fehlenden Fingernägel nicht sah. Die andere Hand war wieder in der Jackentasche verschwunden. Er sah zum Fenster hinaus, als er zu sprechen begann.
»Das erstemal bin ich ihm im Herbst 1952 begegnet, in England, im Zug von London nach Brighton. Ich war auf einem Sprachkurs, zu dem mich der Betrieb geschickt hatte, sie wollten, daß ich auch Auslandskorrespondenz lernte. Es war der Sonntag nach der ersten Woche, und ich fuhr nach Brighton, weil ich das Meer vermißte, ich bin an der See aufgewachsen, oben im Norden, in Esposende. Die Abteiltür ging auf, und herein kam dieser Mann mit dem glänzenden Haar, das ihm wie ein Helm auf dem Kopf saß, und mit diesen unglaublichen Augen, kühn, sanft und schwermütig. Er machte mit Fátima, seiner Braut, eine weite Reise. Geld spielte nie eine Rolle für ihn, damals nicht und auch nicht später. Ich erfuhr, daß er Arzt war, einer, den vor allem das Gehirn faszinierte. Beinharter Materialist, der ursprünglich hatte Priester werden wollen. Ein Mann, der zu vielen Dingen eine paradoxe Einstellung hatte, nicht widersinnig, aber paradox.
Ich war siebenundzwanzig, er fünf Jahre älter. Er war mir in allem turmhoch überlegen. Jedenfalls empfand ich es auf jener Fahrt so. Er der Sohn aus adligem Lissaboner Hause, ich der Bauernsohn aus dem Norden. Wir verbrachten den Tag zusammen, gingen am Strand spazieren, aßen gemeinsam. Irgendwann kamen wir auf die Diktatur zu sprechen. Devemos resistir , wir müssen Widerstand leisten, sagte ich, ich erinnere mich noch heute an die Worte, ich erinnere mich, weil sie mir irgendwie plump vorkamen einem Mann gegenüber, der das feingeschnittene Gesicht eines Poeten hatte und manchmal ein Wort gebrauchte, das ich noch nie gehört hatte.
Er schlug die Augen nieder, blickte zum Fenster hinaus, nickte. Ich hatte ein Thema berührt, bei dem er mit sich nicht im reinen war. Es war das falsche Thema für einen Mann, der mit seiner Braut die Welt bereiste. Ich sprach von anderem, doch er war nicht mehr recht bei der Sache und überließ das Gespräch Fátima und mir. ›Du hast recht‹, sagte er beim Abschied, ›natürlich hast du recht‹. Und es war klar, daß er vom Widerstand sprach.
Als ich auf
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