Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Reise in der Zeit gewesen, und er mochte seit Jahren nicht mehr soviel gesprochen haben. Gregorius hätte gerne gefragt und gefragt: nach der kleinen Schwester mit dem sonderbaren Namen, nach Jorge und Fátima, und auch danach, ob er damals angefangen hatte, Griechisch zu lernen. Er hatte atemlos zugehört und darüber die brennende Kehle vergessen. Jetzt brannte sie wieder, und die Zunge war dick. Mitten in seiner Geschichte hatte ihm Eça eine Zigarette angeboten. Er hatte das Gefühl gehabt, sie nicht ablehnen zu können, es wäre gewesen, wie wenn er den unsichtbaren Faden, der sich zwischen ihnen angesponnen hatte, abreißen ließe, er konnte nicht den Tee aus seiner Tasse trinken und seinen Tabak zurückweisen, das ging nicht, wer weiß warum, es ging einfach nicht, und so hatte er die erste Zigarette seines Lebens zwischen die Lippen gesteckt, der zitternden Flamme in Eças Hand ängstlich entgegengesehen und dann zaghaft und sparsam gepafft, um nicht husten zu müssen. Jetzt erst spürte er, wie sehr der heiße Rauch Gift gewesen war für das Brennen im Mund. Er verfluchte seine Unvernunft, und gleichzeitig spürte er mit Erstaunen, daß er das rauchige Brennen nicht anders hätte haben wollen.
Ein schriller Signalton ließ Gregorius zusammenfahren.
»Essen«, sagte Eça.
Gregorius sah auf die Uhr: halb sechs. Eça sah sein Erstaunen und grinste verächtlich.
»Viel zu früh. Wie im Knast. Es geht nicht um die Zeit der Insassen, es geht um die Zeit des Personals.«
Ob er ihn auch weiterhin besuchen dürfe, fragte Gregorius. Eça blickte zum Schachtisch hinüber. Dann nickte er stumm. Es war, als hätte sich ein Panzer der Wortlosigkeit um ihn geschlossen. Als er merkte, daß Gregorius ihm die Hand geben wollte, vergrub er beide Hände energisch in den Jackentaschen und blickte zu Boden.
Gregorius fuhr nach Lissabon hinüber, ohne viel wahrzunehmen. Er ging durch die Rua Augusta, mitten durch das Schachbrett der Baixa, zum Rossio. Es kam ihm vor, als ginge der längste Tag seines Lebens zu Ende. Später, auf dem Bett im Hotelzimmer, fiel ihm ein, wie er sich am Morgen mit der Stirn gegen das nebelfeuchte Schaufenster der kirchlichen Buchhandlung gelehnt und darauf gewartet hatte, daß der drängendheiße Wunsch, zum Flughafen zu fahren, abebbte. Dann hatte er Adriana kennengelernt, den rotgoldenen Tee von Mariana Eça getrunken und bei ihrem Onkel mit verbranntem Mund seine erste Zigarette geraucht. War das wirklich alles an einem einzigen Tag geschehen? Er schlug das Bild von Amadeu de Prado auf. All das Neue, das er heute über ihn erfahren hatte, veränderte seine Züge. Er begann zu leben, der gottlose Priester.
15
»Voilà. Ça va aller? Es ist nicht gerade komfortabel, aber…«, sagte Agostinha, die Praktikantin beim DIARIO DE NOT Í CIAS , der großen und traditionsreichen Zeitung Portugals, etwas verlegen.
Ja, sagte Gregorius, das werde schon gehen, und setzte sich in die düstere Nische mit dem Lesegerät für Mikrofilme. Agostinha, die ihm von einem ungeduldigen Redakteur als Studentin der Geschichte und des Französischen vorgestellt worden war, mochte noch nicht gehen, er hatte vorhin schon den Eindruck gehabt, daß sie oben, wo die Telefone pausenlos klingelten und die Bildschirme flimmerten, mehr geduldet als gebraucht wurde.
»Wonach suchen Sie eigentlich?« fragte sie jetzt. »Ich meine, es geht mich ja nichts an…«
»Nach dem Tod eines Richters suche ich«, sagte Gregorius. »Nach dem Selbstmord eines berühmten Richters im Jahre 1954, am 9. Juni. Der sich vielleicht umgebracht hat, weil er die Bechterevsche Krankheit hatte und die Rückenschmerzen nicht mehr länger ertrug, vielleicht aber auch aus dem Gefühl heraus, sich schuldig gemacht zu haben, weil er während der Diktatur immer weiter Recht gesprochen und sich dem Unrechtsregime nicht widersetzt hatte. Er war vierundsechzig, als er es tat. Hätte also nicht mehr lange warten müssen bis zur Pensionierung. Irgend etwas muß geschehen sein, das es ihm unmöglich machte zu warten. Etwas mit dem Rücken und den Schmerzen, oder etwas bei Gericht. Das ist es, was ich herausfinden möchte.«
»Und… und warum wollen Sie es herausfinden? Pardon …«
Gregorius holte Prados Buch hervor und ließ sie lesen:
PORQU Ê , PAI? WARUM, VATER? »Nimm dich nicht so wichtig!« pflegtest Du zu sagen, wenn jemand klagte. Du saßest in Deinem Sessel, in dem niemand sonst sitzen durfte, den Stock zwischen den mageren Beinen, die
Weitere Kostenlose Bücher