Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
ruhig und klar vor sich gesehen hatte, war er die knappe Stunde, die er bei ihr gewesen war, in Gedanken durchgegangen, Bewegung für Bewegung, Wort für Wort. Manchmal hatte er gefroren, wenn er an ihren strengen, bitteren Blick dachte, in dem Unversöhnlichkeit fernen Geschehnissen gegenüberlag. Eine unheimliche Empfindung hatte ihn beschlichen, wenn er sie durch Amadeus Zimmer schweben sah, ganz der vergangenen Gegenwart zugewandt und dem Wahnsinn nahe. Dann wieder hätte er das gehäkelte Tuch sanft um ihren Kopf legen mögen, um dem gemarterten Geist eine Ruhepause zu gönnen.
Der Weg zu Amadeu de Prado führte über diese zugleich harte und zerbrechliche Frau, oder besser: er führte durch sie hindurch, durch die dunklen Korridore ihrer Erinnerung. Wollte er das auf sich nehmen? War er dem gewachsen? Er, den die gehässigen Kollegen den Papyrus nannten, weil er mehr in alten Texten als in der Welt gelebt hatte?
Es kam darauf an, noch andere Menschen zu finden, die Prado gekannt hatten; nicht nur gesehen, wie Coutinho, und als Arzt erlebt, wie der hinkende Mann und die Greisin von heute morgen, sondern richtig gekannt, als Freund, vielleicht auch als Mitkämpfer im Widerstand. Es würde schwer sein, dachte er, darüber etwas von Adriana zu erfahren; sie betrachtete den toten Bruder als ihr ausschließliches Eigentum, das war spätestens in der Art klargeworden, in der sie, auf das medizinische Buch hinunterblickend, zu ihm gesprochen hatte. Jeden anderen, der das einzig richtige Bild von ihm – welches das ihre war und nur das ihre – in Frage stellen könnte, würde sie verleugnen oder mit allen Mitteln von ihm fernzuhalten suchen.
Gregorius hatte Mariana Eças Nummer herausgesucht und sie dann, nach langen Minuten des Zögerns, angerufen. Ob sie etwas dagegen hätte, wenn er João, ihren Onkel, im Heim besuchte? Er wisse jetzt, daß Prado auch im Widerstand gewesen sei, und vielleicht habe João ihn gekannt. Eine Weile hatte Schweigen geherrscht, und Gregorius wollte sich gerade für das Ansinnen entschuldigen, da sagte sie nachdenklich:
»Ich habe natürlich nichts dagegen, im Gegenteil, ein neues Gesicht würde ihm vielleicht guttun. Ich überlege nur, wie er es aufnehmen würde, er kann sehr schroff sein, und gestern war er noch wortkarger als sonst. Auf keinen Fall dürfen Sie mit der Tür ins Haus fallen.«
Sie schwieg.
»Ich glaube, ich weiß etwas, das helfen könnte. Ich wollte ihm gestern eine Platte mitbringen, eine neue Einspielung von Schuberts Sonaten. Eigentlich will er am Klavier nur Maria João Pires hören, ich weiß nicht, ob es der Klang ist, oder die Frau, oder eine skurrile Form von Patriotismus. Aber diese Platte wird ihm trotzdem gefallen. Ich habe sie dann vergessen mitzunehmen. Sie könnten bei mir vorbeikommen und sie ihm dann bringen. Als Bote in meinem Auftrag sozusagen. Vielleicht haben Sie dann eine Chance.«
Er hatte bei ihr Tee getrunken, einen rotgoldenen, dampfenden Assam mit Kandiszucker, und dabei hatte er von Adriana erzählt. Er hätte sich gewünscht, daß sie etwas dazu sagte, aber sie hörte bloß still zu, und nur einmal, als er von der gebrauchten Kaffeetasse und dem vollen Aschenbecher sprach, die anscheinend drei Jahrzehnte überdauert hatten, verengten sich ihre Augen wie bei jemandem, der sich plötzlich auf einer Spur wähnt.
»Seien Sie vorsichtig«, sagte sie beim Abschied. »Mit Adriana, meine ich. Und berichten Sie mir, wie es bei João war.«
Und nun saß er, mit Schuberts Sonaten in der Tasche, auf dem Boot und fuhr hinüber nach Cacilhas zu einem Mann, der durch die Hölle der Folter gegangen war, ohne seinen geraden Blick zu verlieren. Wieder bedeckte Gregorius das Gesicht mit den Händen. Wenn ihm jemand vor einer Woche, als er, Lateinhefte korrigierend, in seiner Berner Wohnung gesessen hatte, prophezeit hätte, er würde sieben Tage später in einem neuen Anzug und mit einer neuen Brille in Lissabon auf einem Boot sitzen, um bei einem gefolterten Opfer des Salazar-Regimes etwas über einen portugiesischen Arzt und Poeten zu erfahren, der seit mehr als dreißig Jahren tot war: er hätte ihn für verrückt gehalten. War das immer noch er, Mundus, der myopische Bücherwurm, der Angst bekommen hatte, nur weil in Bern ein paar Schneeflocken gefallen waren?
Das Boot legte an, und Gregorius ging langsam zum Heim hinüber. Wie würde es mit der Verständigung sein? Sprach João Eça neben Portugiesisch noch etwas anderes? Es war Sonntag
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