Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
gichtverformten Hände auf dem silbernen Griff, den Kopf – wie immer – von unten her nach vorne gereckt. (Mein Gott, könnte ich Dich nur ein einziges Mal in gerader Haltung vor mir sehen, erhobenen Hauptes, wie es Deinem Stolz entsprach! Ein einziges Mal nur! Aber der tausendfache Anblick des gekrümmten Rückens, er hat jede andere Erinnerung ausgelöscht, und nicht nur das, er hat sogar die Vorstellungskraft gelähmt.) Die vielen Schmerzen, die Du in Deinem Leben hattest aushalten müssen, verliehen Deiner immer gleichen Mahnung Autorität. Niemand wagte zu widersprechen. Nicht nur äußerlich war das so; auch im Inneren verbot sich Widerspruch. Zwar parodierten wir Kinder Deine Worte, fern von Dir gab es Hohn und Gelächter, und selbst Mama, wenn sie deswegen mit uns schimpfte, verriet sich manchmal durch den Anflug eines Lächelns, auf das wir uns gierig stürzten. Aber die Befreiung bestand nur zum Schein, es war wie mit der hilflosen Blasphemie des Gottesfürchtigen.
Deine Worte galten. Sie galten bis zu jenem Morgen, an dem ich beklommen den Weg hinaus zur Schule ging, windgepeitschten Regen im Gesicht. Warum eigentlich war meine Beklommenheit angesichts der düsteren Schulräume und der freudlosen Paukerei nichts, was ich wichtig nehmen sollte? Warum sollte ich es nicht wichtig nehmen, daß Maria João mich wie Luft behandelte, wo ich doch kaum an etwas anderes denken konnte? Warum waren Deine Schmerzen und die Abgeklärtheit, die sie Dir beschert hatten, das Maß aller Dinge? »Vom Standpunkt der Ewigkeit aus betrachtet«, ergänztest Du manchmal, »verliert das doch an Bedeutung.« Voller Wut und Eifersucht auf den neuen Freund von Maria João verließ ich die Schule, ging festen Schritts nach Hause und setzte mich nach dem Essen Dir gegenüber in einen Sessel. »Ich will in eine andere Schule«, sagte ich mit einer Stimme, die fester klang, als sie sich von innen her anfühlte, »die jetzige ist unerträglich.« »Du nimmst dich zu wichtig«, sagtest Du und riebst am silbernen Griff des Stocks. »Was, wenn nicht mich, sollte ich wichtig nehmen?« fragte ich. »Und den Standpunkt der Ewigkeit – den gibt es nicht.«
Eine Stille, die zu zerspringen drohte, füllte den Raum. So etwas hatte es noch nie gegeben. Es war unerhört, und daß es von Deinem Lieblingskind kam, machte es noch schlimmer. Alle erwarteten einen Ausbruch, in dessen Verlauf sich Deine Stimme wie gewöhnlich überschlagen würde. Nichts geschah. Du legtest beide Hände auf den Griff des Stocks. Auf Mamas Gesicht erschien ein Ausdruck, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er machte – dachte ich später – verständlich, warum sie Dich geheiratet hatte. Du erhobst Dich wortlos, nur ein leises Ächzen ob der Schmerzen war zu hören. Zum Abendessen erschienst Du nicht. Das war, seit es diese Familie gab, noch kein einziges Mal vorgekommen. Als ich mich am nächsten Tag an den Mittagstisch setzte, sahst Du mich ruhig und ein bißchen traurig an. »An welche andere Schule denkst du?« fragtest Du. Maria João hatte mich in der Pause gefragt, ob ich eine Orange wolle. »Es hat sich erledigt«, sagte ich.
Wie unterscheidet man, ob man eine Empfindung wichtig nehmen oder sie wie eine leichtgewichtige Laune behandeln soll? Warum, Papá, hast Du nicht mit mir gesprochen, bevor Du es tatest? So daß ich wenigstens wüßte, warum Du es tatest?
»Ich verstehe«, sagte Agostinha, und dann suchten sie unter den Fiches nach einer Meldung über den Tod von Richter Prado.
»1954, da galt schärfste Zensur«, sagte Agostinha, »darin kenne ich mich aus, Pressezensur war mein Thema beim Lizenziat. Was der DIARIO druckte, muß nicht stimmen. Und wenn es ein politischer Selbstmord war, dann erst recht nicht.«
Das erste, was sie fanden, war die Todesanzeige, die am 11. Juni erschienen war. Agostinha fand sie für die portugiesischen Verhältnisse jener Zeit extrem karg, so karg, daß sie einem stummen Aufschrei gleichkam. Faleceu , Gregorius kannte das Wort vom Friedhof. Amor , recordação , knappe, rituelle Formulierungen. Darunter die Namen der engsten Angehörigen: Maria Piedade Reis de Prado; Amadeu; Adriana; Rita. Die Adresse. Der Name der Kirche, in der die Messe abgehalten würde. Das war alles. Rita, dachte Gregorius – war das Mélodie, von der João Eça gesprochen hatte?
Jetzt suchten sie nach einem Bericht. In der ersten Woche nach dem 9. Juni war nichts. »Nein, nein, weiter«, sagte Agostinha, als Gregorius aufgeben wollte. Die
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