Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
warten.
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Atemlos las Gregorius, was Prado aufgeschrieben hatte. Zuerst überflog er es nur, um möglichst bald zu wissen, warum Adriana seine Gedanken wie einen Fluch empfunden hatte, der über den folgenden Jahren lag. Dann schlug er jedes einzelne Wort nach. Schließlich schrieb er den Text ab, um besser zu verstehen, wie es für Prado gewesen war, sie zu denken.
Habe ich es für ihn getan? War es so, daß ich in seinem Interesse wollte, daß er weiterlebte? Kann ich mit Wahrhaftigkeit sagen, daß das mein Wille war? Bei meinen Patienten ist es so, auch bei denen, die ich nicht mag. Zumindest hoffe ich das, und ich möchte nicht denken müssen, daß mein Tun hinter meinem Rücken von ganz anderen Motiven gelenkt wird als denjenigen, die ich zu kennen meine. Aber bei ihm ?
Meine Hand, sie scheint ihr eigenes Gedächtnis zu haben, und es will mir vorkommen, als sei dieses Gedächtnis vertrauenswürdiger als jede andere Quelle der Selbsterforschung. Und dieses Gedächtnis der Hand, die Mendes die Nadel ins Herz stach, es sagt: Es war die Hand eines Tyrannenmörders, die den bereits toten Tyrannen in einem paradoxen Akt zurück ins Leben holte.
(Auch hier bestätigt sich, was mich die Erfahrung stets von neuem gelehrt hat, ganz gegen das ursprüngliche Temperament meines Denkens: daß der Körper weniger bestechlich ist als der Geist. Der Geist, er ist ein charmanter Schauplatz von Selbsttäuschungen, gewoben aus schönen, besänftigenden Worten, die uns eine irrtumsfreie Vertrautheit mit uns selbst vorgaukeln, eine Nähe des Erkennens, die uns davor feit, von uns selbst überrascht zu werden. Wie langweilig wäre es doch, in solch müheloser Selbstgewißheit zu leben!)
Habe ich es also in Wirklichkeit für mich selbst getan? Um vor mir als guter Arzt und tapferer Mensch dazustehen, der die Kraft hat, seinen Haß niederzuringen? Um einen Triumph der Selbstbeherrschung feiern und im Rausch der Selbstbezwingung schwelgen zu können? Aus moralischer Eitelkeit also, und schlimmer noch: aus ganz gewöhnlicher Eitelkeit? Die Erfahrung in jenen Sekunden – es war nicht die Erfahrung genießerischer Eitelkeit, dessen bin ich mir gewiß; im Gegenteil, es war die Erfahrung, gegen mich selbst zu handeln und mir die naheliegenden Empfindungen der Genugtuung und Schadenfreude nicht zu gönnen. Doch vielleicht ist das kein Beweis. Vielleicht gibt es eine Eitelkeit, die man nicht spürt und die sich hinter entgegengesetzten Empfindungen versteckt?
Ich bin Arzt – das ist es, was ich der empörten Menge entgegenhielt. Ich hätte auch sagen können: Ich habe den hippokratischen Eid abgelegt, es ist ein heiliger Eid, und ich werde ihn nie brechen, niemals, mögen die Dinge liegen, wie sie wollen. Ich spüre: Ich mag es, das zu sagen, ich liebe es, es sind Worte, die mich begeistern, berauschen. Ist das so, weil sie wie die Worte eines priesterlichen Gelübdes sind? War es also eigentlich eine religiöse Handlung, als ich ihm, dem Schlächter, das Leben zurückgab, das er bereits verloren hatte? Die Handlung von einem, der es insgeheim bedauert, daß er sich nicht mehr aufgehoben fühlen kann in Dogma und Liturgie? Der immer noch dem unirdischen Schein der Altarkerzen nachtrauert? Also keine aufgeklärte Handlung? Gab es, von mir unbemerkt, in meiner Seele einen kurzen, aber heftigen, erbitterten Kampf zwischen dem einstmaligen Priesterzögling und dem Tyrannenmörder, der bisher nie zur Tat geschritten ist? Die Nadel mit dem lebensrettenden Gift in sein Herz zu stoßen: War es eine Tat, in der sich Priester und Mörder die Hand reichten? Eine Bewegung, in der sie beide bekamen, was sie ersehnten?
Wäre an der Stelle von Inês Salomão ich es gewesen, der mich anspuckte: Was hätte ich zu mir sagen können?
»Es war ja nicht ein Mord, den wir von dir verlangten«, hätte ich sagen können, »kein Verbrechen also, weder im Sinne des Gesetzes noch im Sinne der Moral. Hättest du ihm seinen Tod gelassen: Kein Richter hätte dich jagen und niemand hätte dich vor die mosaische Tafel führen können, auf der steht: Du sollst nicht töten. Nein, was wir erwarten konnten, war etwas ganz Einfaches, Schlichtes, Augenfälliges: daß du einen Mann, der Unglück, Folter und Tod über uns gebracht hat und den uns die barmherzige Natur endlich vom Halse schaffen wollte, nicht mit aller Macht am Leben halten und dafür sorgen würdest, daß er sein blutiges Regime weiterhin ausüben kann.«
Wie hätte ich mich verteidigen
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