Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
beworfen hatten, denen er all sein Können und all seine Lebenskraft geschenkt hatte, Tag und Nacht.
Plötzlich, mitten im Kauen, rannte er ins Bad und erbrach sich in einer endlos scheinenden Folge von würgenden Krämpfen. Er wolle sich etwas ausruhen, sagte er nachher tonlos.
»Ich hätte ihn gerne in die Arme genommen«, sagte Adriana, »aber es war unmöglich, es war, als brenne er und als würde sich jeder verbrennen, der ihm zu nahe kam.«
Die beiden nächsten Tage war es fast, als sei nichts geschehen. Nur ein bißchen angespannter als sonst war Prado, und seine Freundlichkeit den Patienten gegenüber hatte etwas Ätherisches und Unwirkliches. Ab und zu hielt er mitten in einer Bewegung inne und sah mit leerem und vagem Blick vor sich hin wie ein Epileptiker während einer Absence. Und wenn er auf die Tür zum Wartezimmer zuging, war ein Zögern in seinen Bewegungen, als fürchte er, es könnte dort jemand aus der Menge sitzen, die ihn des Verrats angeklagt hatte.
Am dritten Tag wurde er krank. Adriana fand ihn in der Morgendämmerung schlotternd am Küchentisch. Er schien um Jahre gealtert und wollte niemanden sehen. Dankbar überließ er es ihr, alles zu regeln, und versank danach in einer tiefen, gespenstisch anmutenden Apathie. Er rasierte sich nicht und zog sich nicht an. Der einzige Besucher, den er zu sich ließ, war Jorge, der Apotheker. Doch auch zu ihm sagte er kaum ein Wort, und Jorge kannte ihn zu gut, um in ihn zu dringen. Adriana hatte ihm erzählt, wie es dazu gekommen war, und er hatte schweigend genickt.
»Nach einer Woche kam ein Brief von Mendes. Amadeu legte ihn ungeöffnet auf den Nachttisch. Dort lag er zwei Tage. In den frühen Morgenstunden des dritten Tages steckte er ihn, nach wie vor ungeöffnet, in einen Umschlag und adressierte ihn an den Absender. Er bestand darauf, ihn eigenhändig zum Postamt zu bringen. Dort würden sie erst um neun aufmachen, wandte ich ein. Er ging trotzdem auf die leere Gasse hinaus, den großen Umschlag in der Hand. Ich sah ihm nach und wartete dann am Fenster, bis er nach Stunden wiederkam. Er ging aufrechter als beim Weggehen. In der Küche probierte er, ob er den Kaffee wieder vertrug. Es ging. Dann rasierte er sich, zog sich an und setzte sich ans Pult.«
Adriana schwieg, und ihr Gesicht erlosch. Verloren blickte sie auf die Liege, vor der Amadeu gestanden hatte, als er Mendes mit einer Bewegung, die einem Todesstoß glich, die lebensrettende Nadel ins Herz stieß. Damit, daß die Geschichte zu Ende war, war für sie auch die Zeit zu Ende.
Im ersten Moment kam es auch Gregorius vor, als hätte man ihm die Zeit vor der Nase abgeschnitten, und er hatte den Eindruck, einen kurzen Blick auf die Not erhaschen zu können, mit der Adriana seit mehr als dreißig Jahren lebte: die Not, in einer Zeit leben zu müssen, die längst zu einem Ende gekommen war.
Jetzt löste sie die Hand von der Liege, und indem sie die Berührung aufhob, schien sie auch die Verbindung zur Vergangenheit zu verlieren, die ihre einzige Gegenwart war. Zuerst wußte sie nicht, was sie mit der Hand machen sollte, dann schob sie sie in die Tasche des weißen Mantels. Die Bewegung ließ den Mantel als etwas Besonderes hervortreten, er kam Gregorius nun wie eine magische Hülle vor, in die hinein Adriana geflohen war, um aus ihrer stillen, ereignislosen Gegenwart zu verschwinden und in der fernen, flammenden Vergangenheit wiederaufzuerstehen. Nun, da sie erloschen war, diese Vergangenheit, wirkte der Mantel an ihr so verloren wie ein Kostüm in der Requisitenkammer eines aufgegebenen Theaters.
Gregorius ertrug den Anblick ihrer Leblosigkeit nicht länger. Am liebsten wäre er weggelaufen, hinaus in die Stadt, in ein Lokal mit vielen Stimmen, mit Gelächter und Musik. An einen Ort, wie er ihn sonst mied.
»Amadeu setzt sich ans Pult«, sagte er. »Was schreibt er?«
Die Glut ihres damaligen Lebens kehrte zurück in Adrianas Gesicht. Doch in die Freude, weiterhin über ihn sprechen zu können, mischte sich etwas anderes, etwas, das Gregorius nur langsam erkannte. Es war Ärger. Kein kurzatmiger Ärger, der sich an einer Kleinigkeit entzündet, aufflammt und rasch wieder erlischt, sondern ein tiefer, schleichender Ärger, einem Schwelbrand ähnlich.
»Ich wünschte, er hätte es nicht geschrieben. Oder gar nicht erst gedacht. Es war wie ein schleichendes Gift, das von jenem Tag an in seinen Adern pulsierte. Es hat ihn verändert. Zerstört. Er wollte es mir nicht zeigen. Aber er war
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